Burkhard Ziebolz
Morgensterns Erkenntnis - Kriminalroman aus Niedersachsen
Saga
Morgensterns Erkenntnis - Kriminalroman aus Niedersachsen Copyright © 1996, 2019 Burkhard Ziebolz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726086805
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Zugegeben, der Gang der Handlung und die
darin vorkommenden Personen
sind frei erfunden.
Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß es sich so
zugetragen haben könnte.
Für Sabine und alle, die sich ohne Murren
der Mühsal des Lektorats unterworfen haben.
Der Mond stand flach und rund am Himmel. Die Nacht war ruhig, nur das dünne Rauschen der Straße in einiger Entfernung zeigte an, daß man sich mitten in einer Großstadt befand. Kein einziges Mal störte die Sirene des Krankenwagens die Stille, und nur gelegentlich drang eine Stimme aus einer der anderen Abteilungen zu ihr durch.
Es war ein heißer Sommertag gewesen, und die Menschen hatten unter den hohen Temperaturen gestöhnt. Die Wärme hielt immer noch an, die Nacht brachte nur wenig Abkühlung. Die Frau schien dies nicht zu stören.
Sie saß schreibend über ein Blatt Papier gebeugt, konzentriert und für alles blind außer für die Tätigkeit, mit der sie befaßt war. Sie war von schlanker Statur und in einen makellos weißen Kittel gekleidet, wie ihn Ärzte oder Wissenschaftler tragen. Ihr freundliches, nicht mehr ganz junges Gesicht mit den zwei wachen Augen wurde umrahmt von dunklem, sorgfältig frisiertem Haar, durch das sich einige graue Strähnen zogen.
Der Raum, in dem sie saß, war hell erleuchtet und, nach Büromaßstäben, gemütlich eingerichtet. Zwei der Wände waren teilweise von Regalen bedeckt, angefüllt mit Büchern und Akten. Ein kleiner, runder Besprechungstisch mit vier Stühlen und der Schreibtisch mit Computer, Papier und Schreibmaterial vervollständigten den funktionellen Rahmen. Das einzige Fenster stand weit offen; es ging auf den Innenhof des Gebäudes hinaus.
An der Wand dem Fenster gegenüber hing ein Kunstdruck in dünnem Goldrahmen, eine verkleinerte Reproduktion von Pablo Picassos Guernica, an einer der anderen Wände fand sich die Kopie eines Stillebens von Cézanne, in Öl gemalt. Ein paar persönliche Gegenstände drückten dem Raum den Stempel seiner Benutzerin auf.
Die Frau machte einen angespannten Eindruck und war sehr vertieft in ihre Arbeit. Nur gelegentlich hob sie den Blick von dem, was sie schrieb, um einen Moment überlegend in die Dunkelheit vor ihrem Fenster zu schauen. Nach einiger Zeit stand sie auf und ging zu einem der Regale. Sie nahm ein dickes Buch, anscheinend ein wissenschaftliches Werk, von einem der Bretter und blätterte eine Weile darin.
Als sie die gesuchte Stelle gefunden hatte, kehrte sie damit zum Schreibtisch zurück, legte das Buch aufgeschlagen vor sich hin und setzte sich wieder. Sie las noch einige Minuten, dann schrieb sie weiter an ihrem Text.
Die Frau saß etwas vornübergebeugt. Ihre linke, freie Hand lag mit der Fläche nach unten neben dem Blatt, die Finger leicht nach innen gekrümmt, wie es ihre Angewohnheit war. Die einzigen Geräusche im Zimmer waren das Kratzen des Füllhalters, den ihre Rechte über das Papier führte, und das Knarren des Stuhles, wenn sie sich auf ihm bewegte. Sie bemerkte nicht das Augenpaar, das sie aus einem Fenster im gegenüberliegenden Gebäudeflügel, keine zehn Meter von ihr entfernt, aufmerksam beobachtete.
Das Zimmer hinter diesem Fenster lag in vollkommener Dunkelheit, zusätzlich schützte ein durchsichtiger Vorhang den Beobachter vor Entdeckung. Leise tickte eine Uhr, flache Atemzüge waren zu hören, ruhig und regelmäßig. Die dunkle Gestalt saß rittlings auf einem Stuhl, die Arme auf die Lehne aufgestützt. Sie blickte zu der Frau hinüber, während sie gleichzeitig ihren Plan noch einmal in allen Einzelheiten durchging.,
Gab es keine andere Möglichkeit? Die Antwort auf diese Frage war in den vergangenen Tagen immer wieder die gleiche gewesen. Es war in mehr als einer Hinsicht bedauerlich, aber es gab keine Möglichkeit, sie auf anderem als gewaltsamem Wege zu stoppen. Jedes Risiko mußte ausgeschaltet werden. Zuviel hing ab von dem, was die Frau wußte und was sie, in guter Absicht und ohne sich über alle Folgen im klaren zu sein, an andere weiterzugeben plante.
Die Augen beobachteten die Frau noch eine Weile, kühl und distanziert. Sie wirkten seltsam unbeteiligt, spiegelten keine Gedanken wider, auch nicht die Erleichterung, den sorgfältig gehegten und immer wieder durchdachten Plan endlich in die Tat umsetzen zu können.
Der Moment war gekommen. Der Lauf der Waffe hob sich. Sie wog sehr leicht, und die harte Riffelung des Griffes war deutlich an der Handfläche zu spüren. Ein Arm wurde ausgestreckt. Der schmale, weiße Hals der Frau lag in der Mitte der groben Zielvorrichtung.
Ein tiefes Einatmen und Ausatmen, dann bewegte sich der Finger am Abzug beinahe unmerklich. Ohne ein Geräusch sauste das Geschoß durch die Nacht, mit tödlicher Sicherheit seinem Ziel entgegen.
Der Frau blieb wenig Zeit.
Im Zimmer gegenüber erhob sich ein dunkler Schatten von seinem Stuhl. Er trat näher ans Fenster, um besser sehen zu können, und wachte von dort über das Sterben seines Opfers.
Die Klinik glich einem Ameisenhaufen, in dem ein Kind mit einem Ast herumgestochert hatte. Am Morgen hatte die Stationsschwester das verschlossene Büro von Dr. Morgenstern mit ihrem Zweitschlüssel geöffnet, nachdem ihre Chefin auf minutenlanges Klopfen nicht reagiert hatte. Sie hatte sie tot an ihrem Schreibtisch gefunden und war laut um Hilfe schreiend auf den Gang gelaufen. Die Frau befand sich immer noch im Schockzustand. Natürlich war sofort die Polizei verständigt worden.
Hauptkommissar Hans Fröhlich, der Beamte vom Dienst, nahm den Anruf kurz vor dem Frühstück entgegen, eine Stunde bevor sein Nachtdienst beendet gewesen wäre. Er benachrichtigte die Kollegen von der Spurensicherung und fuhr sofort los. Der frühen Stunde entsprechend war seine Laune, als er, unrasiert und unausgeschlafen, zwanzig Minuten später am Tatort erschien.
Fröhlich war ein sportlicher, breitschultriger Mann von fünfundvierzig Jahren und seit zwölf Jahren bei der Mordkommission der Kripo Braunschweig. Er liebte seinen Beruf, ohne eigentlich einen Grund dafür nennen zu können. Trotz der Gewalt und des Elends, mit dem er ihn immer wieder konfrontierte, hatte Fröhlich sich seine positive Lebenseinstellung bewahrt, und er schien immer nach einem Grund zum Lachen zu suchen. Meist fand er auch einen, und dann wurde sein markantes Gesicht plötzlich wieder jung.
Seine kräftige Figur machte immer noch einen recht drahtigen Eindruck, ungeachtet des leichten Bauchansatzes, den man nur sah, wenn er ausgezogen war. Das kurzgeschnittene, graue Haar lichtete sich im Stirnbereich, bildete tiefe Geheimratsecken, und beim Lesen mußte er seit einiger Zeit eine Brille aufsetzen. Ansonsten war er ein Ausbund an Gesundheit, mit einem ungebrochenen sportlichen Bewegungsdrang und dem ständigen Bedürfnis nach Aktivität.
Er betrat das Zimmer wachsam, beinahe zögernd, und sah sich um. Der erste Blick über den Tatort war sehr wichtig, weil er noch nicht durch Fakten aus der Spurensicherung und Zeugenaussagen beeinflußt war. Dabei ergaben sich oft ganz andere Eindrücke als die, die bei der planmäßigen und zielgerichteten Untersuchung einer Örtlichkeit greifbar wurden; Eindrücke, die für die Aufklärung eines Sachverhaltes ausschlaggebend sein konnten.
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