»Frenzel ist sehr im Fall Tobias Kronburger engagiert«, bemerkte Fröhlich.
»Ja, das ist richtig. Sein Interesse ist sowohl beruflicher als auch privater Natur. Frenzel kennt die Kronburgers schon lange. Er war oft bei ihnen zu Gast, übrigens auch an dem Abend, an dem die kleine Karla ermordet wurde. Genaugenommen war er derjenige, der Tobias ins Zimmer seiner Schwester gehen sah und der ihn dann vor Gericht belasten mußte. Während des Verfahrens setzte er sich dafür ein, daß Tobias bei uns eingeliefert wurde. Er hatte schon vor der Tat ein sehr gutes Verhältnis zu ihm, war sehr oft mit ihm und seiner Schwester zusammengewesen, Zoo, Tennis, Fußball und so weiter. Tobias hängt an ihm wie ein Schoßhund.«
Ohne es zu wissen, hatte er genau Fröhlichs Eindruck von dem Foto bei Schwester Edith wiedergegeben.
»Kommt Tobias in der Therapie gut voran?«
»Bei Fällen wie diesem ist eine Kontrolle nur schwer möglich. Wie Sie vielleicht wissen, ist Tobias vor der Tat niemals durch Gewalttätigkeit aufgefallen. Gerade das macht die Geschichte so rätselhaft - und für den Fachmann so interessant.«
»Was ist Ihre Diagnose? Was war der Auslöser für die Tat?«
»Unsere bisherigen Untersuchungen - oder besser Dr. Frenzels bisherige Untersuchungen - lassen auf eine Art multiple Persönlichkeit schließen. Tobias ist gleichzeitig noch eine zweite Persönlichkeit, die sich aber nur sehr selten zeigt. Das erklärt auch, warum er sich an nichts erinnern kann - im Moment verfügt er nur über sein Gedächtnis als Tobias Kronburger, die andere, dunkle Persönlichkeit hat sich zurückgezogen. Fälle dieser Art sind nicht selten. Es gibt Patienten, die zehn und mehr verschiedene Charaktere in sich vereinen. Je nachdem, mit welchem man gerade spricht, können sie nett, aggressiv, intelligent, dumm, eine Frau, ein Mann oder etwas anderes sein.«
Leute mit dauernd wechselnden Charaktereigenschaften waren sicherlich als Gesprächspartner nicht uninteressant und boten viele Überraschungen, dachte Fröhlich.
»Gibt es für Tobias eine Heilungschance?«
»Nach dem heutigen Stand des Wissens keine hundertprozentige. Seit er hier ist, hat er keine Anzeichen von Fehlverhalten erkennen lassen. Frenzel arbeitet täglich mit ihm, wesentlich öfter als mit anderen Patienten. Ob dies irgend etwas bewirkt, ist schwer zu sagen. Man hat schon von Personen in gleichartigen Fällen gehört, die nach Jahren der Ruhe urplötzlich in die andere Persönlichkeit zurückfielen und wieder gewalttätig wurden. Diese Unsicherheit wird Tobias sehr lange Zeit in Gewahrsam halten. Ich würde mich wegen des Restrisikos jedenfalls sehr schwer tun, ein Gutachten zu unterschreiben, auf dessen Basis er entlassen werden könnte. Letztendlich wäre es aber Dr. Frenzels Aufgabe, die Entlassungsfähigkeit festzustellen.«
Der Junge hatte also lebenslänglich. In Anbetracht der Grausamkeit seiner Tat und der Gefahr, die seine Person immer noch barg, hatte dies nach Fröhlichs Ansicht eine gewisse Rechtfertigung. Er erinnerte sich, daß Tobias seiner Schwester mit dem Messer brutal die Kehle durchgeschnitten und sie dabei mit einem Kissen am Schreien gehindert hatte. Sie war innerhalb kürzester Zeit erstickt. Das Kissen hatte auch verhindert, daß er mit Blut bespritzt wurde; an seiner Kleidung waren damals nur wenige Tropfen gefunden worden. Es war kein zufälliges Gemetzel gewesen, sondern er war bei seiner Tat planmäßig und mit Bedacht vorgegangen.
»Seine Eltern besuchen ihn nicht, sagte man mir. Haben Sie mal mit ihnen gesprochen?«
»Wiederholt.« Walkemeier wirkte etwas bedrückt. »Übrigens haben das auch Frenzel und Morgenstern getan. Abgesehen von der menschlichen Seite wäre ein solcher Besuch auch therapeutisch von großem Nutzen. Sie weigern sich aber beide, ihn zu sehen. Die Mutter beschrieb mir einmal den Moment, als sie, wenige Stunden nach der Tat, einen Blutstropfen am Schlafanzug ihres Sohnes fand. Bis dahin war er unverdächtig gewesen - Frenzel machte seine belastende Aussage erst später. Keiner brachte ihn mit dem Mord in Verbindung. Können Sie sich die Situation vorstellen? Im einen Moment noch der Sohn, der den Schmerz um die tote Tochter teilt, im nächsten Augenblick das Monster, das sie abgeschlachtet hat. Der Vater hatte die Leiche der Kleinen damals gefunden, der Anblick hat ihn um Jahre älter gemacht. Die beiden haben keinen Sohn mehr.«
Konnte das die intensive Beziehung zwischen Tobias und Frenzel erklären? Tobias war quasi ohne Eltern, Frenzel als Bezugspersonhatte deren Stelle eingenommen. Auf dem Foto hatte aber noch etwas anderes im Blick des Jungen gelegen, etwas, das sehr schwer zu benennen war und nichts mit einer normalen Vater-Sohn-Beziehung zu tun hatte.
Es war später geworden, als Fröhlich geplant hatte. Er bedankte sich bei Walkemeier. Tatsächlich hatte ihm dieser mit seiner offenen und sympathischen Art sehr geholfen. Sie standen auf und schüttelten sich die Hände.
»Es kann sein, daß ich in den nächsten Tagen nochmals auf Sie zukommen werde«, bereitete Fröhlich seinen Gesprächspartner vor.
»Wann immer Sie wollen«, antwortete der Professor. »Und lassen Sie sich nicht von Frau Grumbach abwimmeln. Sie ist eine harte Nuß, hat aber einen Kern aus Nougat.« Offenbar wußte er um die Wirkung, die seine Sekretärin auf Besucher hatte.
Fröhlich schlenderte den Gang vor Walkemeiers Büro hinunter und nahm den Lift in die darüberliegende Etage, wo die geschlossene Abteilung mit den pathologisch kriminellen Patienten lag.
Der zweite Stock unterschied sich etwas von den anderen Etagen. Die Wände waren hier nicht weiß, sondern farbig. Wahrscheinlich aus therapeutischen Gründen, mutmaßte Fröhlich und hatte recht damit.
Direkt neben der Fahrstuhltür gab es eine Rezeption, an der ein Pfleger saß. Er sah ebenso stabil aus wie die Tür hinter ihm, die den Zugang zur eigentlichen Station bildete. Links und rechts neben der Tür standen zwei weiße Säulen von etwa zwei Metern Höhe. Fröhlich identifizierte sie als hochempfindliche Metalldetektoren der neuesten Generation. Vor sich, unter dem Tresen, hatte der Pfleger zwei Monitore, die ihm Einblick in die Räume hinter der Tür gestatteten. Der Tresen mochte noch weitere Sicherheitsvorrichtungen verbergen.
Der Mann machte den Eindruck, als sei sein zweiter Vorname Vorsicht und sein dritter Mißtrauen. Sein erster war Jannis, wie dem Namensschild auf seiner Brust zu entnehmen war.
Fröhlich zeigte ihm seinen Dienstausweis und erklärte sein Hiersein. »Ich würde mich gern etwas auf der Station umschauen. Und mich mit Tobias Kronburger unterhalten.«
»Ich lasse Sie hinein. Fragen Sie nach Schwester Barbara, die hat den Überblick. Haben Sie Metallgegenstände bei sich? Die hat unser Detektor nicht so gern.«
Der Polizist gab Schlüsselbund, Geldbeutel, Kugelschreiber und Dienstpistole ab. Jannis trug ihn namentlich mit Uhrzeit in eine Liste ein und drückte dann auf einen Knopf vor sich. Das leise Summen des Türöffners war zu hören. Fröhlich drückte sich durch die Tür.
Dahinter lagen etwa fünf Meter Flur, überwacht von einer Kamera, dann wieder eine stabile, geschlossene Tür. Auch hier summte der Öffner. Fröhlich winkte Jannis über Video kurz zu und trat aus der Schleuse in die Station.
Die nüchterne Krankenhausatmosphäre verlor sich hier völlig. Die Wände waren in Ockertönen gestrichen, die Türen in einem warmen Grün, kleine, bunte Reproduktionen moderner Maler lockerten das Bild auf. Er ging an einem Aufenthaltsraum mit Fernseher und Flipper vorbei, der mit bunten Postern wie tapeziert war. Zwei Mädchen, etwa dreizehn Jahre alt, saßen hier und sahen fern.
Geradeaus, am Ende des Ganges in etwa dreißig Metern Entfernung, sah er die offene Tür eines Zimmers, das er für den Aufenthaltsraum des Personals hielt. Er marschierte darauf zu. Auf seinem Weg hatte er Gelegenheit, einige der Räume zu sehen, die von den Patienten bewohnt wurden. Abgesehen von der überall vorhandenen Standardmöblierung hatte man ihnen anscheinend gestattet, sich ihre Zimmer selbst einzurichten, so daß jedes etwas anders aussah.
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