Auf diese Frage war Schwester Barbara anscheinend vorbereitet. »Ich wüßte niemanden. Sie hatte eine sehr ruhige, beherrschte Art, die sie sich auch in Konfliktsituationen bewahrte, und ein großes Harmoniebedürfnis. Sie gab niemandem vom Personal das Gefühl, untergeordnet oder weniger wert zu sein, und für die Patienten war sie immer zu einem Gespräch bereit. Natürlich passieren auch bei uns ab und zu Pannen, die ein Eingreifen der Vorgesetzten erforderlich machen. Sie war aber immer gerecht und hat sich niemals gegenüber einem Mitarbeiter gehenlassen.«
»Haben Sie oder Ihre Kollegen hier in letzter Zeit irgendwelche Streitereien oder merkwürdige Zwischenfälle beobachtet? Ist irgend etwas passiert, was von der Routine abgewichen ist?«
Schwester Barbara überlegte. Einen Moment lang verdunkelte sich ihr freundliches Gesicht. Es schien, als kämpfe sie mit sich oder als sei sie sich in irgend etwas unsicher. Zögernd schüttelte sie den Kopf.
»Nichts, was... unnormal wäre.«
Es gab also doch etwas. »Okay. Was wurde denn beobachtet, was Sie noch als normal einstufen würden?«
»Na ja, Reibereien zwischen den Patienten oder dem Personal oder zwischen Personal und Patienten gibt es schon manchmal. Einige Konflikte sind dann halt etwas heftiger als andere.« Sie stockte.
Der Hauptkommissar verstand ihre Bedenken. »Erzählen Sie einfach frisch von der Leber. Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, daß wir den Täter sowieso außerhalb des Klinikumfeldes vermuten; Sie denunzieren mit Ihrer Aussage also niemanden. Ich möchte nur ein rundes Bild von allem kriegen.«
Die kleine Notlüge schien die junge Frau zu beruhigen. »Vor ein paar Wochen gab es einen heftigen Wortwechsel zwischen Tobias Kronburger und Dr. Frenzel während der Therapie. Ich ging gerade an der Tür des Behandlungsraumes vorbei, bin auch nicht stehengeblieben. Ich konnte nicht hören, worum es ging, aber sie schrien sich an. Beide sind eigentlich nicht die Typen für laute Auseinandersetzungen, deshalb kam mir das komisch vor. Ich habe Dieter, das heißt Dr. Frenzel, gefragt, was vorgefallen sei. Er wollte aber nicht so recht mit der Sprache raus, war auch etwas aufgeregt und erzählte etwas von Nichternstnehmen der Therapie und Leuten, die seine Bemühungen sabotierten.«
Sie stockte. Bei der Nennung von Frenzels Vornamen war sie leicht rot geworden, Offenbar bestand zwischen Frenzel und Barbara zumindest ein freundschaftliches Verhältnis.
Fröhlich ignorierte das, um den Informationsfluß nicht zu unterbrechen. Er war sehr interessiert.
»Gab es sonst noch etwas?«
»Ein paar Tage nach diesem Streit gab es eine Auseinandersetzung zwischen Dr. Frenzel und einer anderen Patientin, bei der es auch sehr laut zuging. Ich war nicht dabei, aber Herr Plichtner, einer unserer Pfleger, hat das beobachtet. Er hat nicht mitbekommen, worum es ging, erzählte nur, daß beide völlig aus dem Häuschen gewesen seien.«
»Wie heißt die andere Patientin?«
»Robby Anderson. Eigentlich Robinia, aber das will sie nicht hören.«
»Kann ich gut verstehen. Warum ist sie hier?«
»Sie hat zusammen mit zwei Freundinnen einen Dreijährigen entführt und fast zu Tode geprügelt, nur so zum Zeitvertreib.«
Sie sah, wie bei Fröhlich langsam die Klappe fiel, und sprach schnell weiter.
»Es war nicht ganz klar, inwieweit sie Drahtzieherin oder Mitläuferin gewesen ist. Die beiden anderen Täterinnen, beide älter als sie, sitzen in Jugendhaft. Bei Robby wurde eine Einweisung für zwei Jahre in die Psychiatrie angeordnet.«
Anscheinend war sich das Gericht in Robbys Fall wirklich nicht ganz sicher gewesen und hatte sich von der psychologischen Behandlung weiteren Aufschluß erhofft. Das war zwar nach Fröhlichs Meinung moralisch nicht ganz astrein, wurde aber manchmal so gehandhabt. Er nahm sich vor, sowohl mit Plichtner als auch mit Robby zu sprechen.
Für den Moment reichte es ihm. Er verabschiedete sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um und musterte die Einrichtung.
»Warum, glauben Sie, richtet sich Tobias sein Zimmer nicht gemütlicher ein?«
»Dr. Frenzel hat dazu eine Theorie«, antwortete Schwester Barbara zögernd. »Er glaubt, der Junge habe das Verlangen nach einer härteren Strafe als der, die er vom Gericht erhalten hat. Deshalb bewohne er ein Zimmer, das wie eine Mönchszelle aussieht. Übrigens tut er sich auch bewußt weh, kratzt sich die Arme blutig und solche Sachen. Das gehört ebenfalls zu diesem Bedürfnis.«
Der Hauptkommissar nickte. »Das Bild da auf dem Nachtschrank, ist das seine Schwester?«
»Ja, das ist sie. Dr. Frenzel hat es ihm gegeben, nachdem er ihn darum gebeten hatte. Seine Eltern wissen nicht, daß er das Foto hat«, setzte sie nachdenklich hinzu.
Fröhlich fragte sich, warum sie das für wichtig genug hielt, um es zu erwähnen.
Beim Hinausgehen kam er wieder am Aufenthaltsraum der Patienten vorbei. Er war, wie der Rest der Station auch, jetzt leer. Dem Zeitplan zufolge, den Schwester Barbara ihm gegeben hatte, waren jetzt wohl alle beim Unterricht oder in der Therapie.
Fröhlich zögerte kurz und ging hinein.
Die Möbel waren relativ neu, funktionell, aber gemütlich. Auch vom Fenster dieses Zimmers aus konnte man den gegenüberliegenden Gebäudeflügel sehen. Neben Fernseher, Radio und sogar einem Flipper gab es ein kleines Bücherregal. Er trat näher und legte den Kopf schief, um die Titel lesen zu können.
Neben vielen alten Krimis fanden sich ein Lexikon, ein Wörterbuch Deutsch / Englisch, zwei pharmakologische Lehrbücher, eine Anatomie, zwei Versandhauskataloge, einige Sachbücher, meist medizinischen Inhaltes, und ein Stapel zerlesener Zeitschriften. Aus der wenig zielgerichteten Auswahl schloß Fröhlich, daß es sich um Bücherspenden handelte, vielleicht von Angestellten des Krankenhauses.
In einer Ecke stand eine Kiste mit Gesellschaftsspielen, obenauf ein Backgammonbrett. Alte Zeitschriften bedeckten den Tisch in der Zimmermitte, dazwischen lag ein Nähzeug, das wohl jemand dort vergessen hatte. An der Wand hing eine Pappzielscheibe, auf dem Boden davor lagen zwei Plastikpfeile mit Saugnäpfen an den Spitzen. Die dazugehörige Pistole lag in der Kiste. Fröhlich erinnerte sich, in seiner Kindheit ein ähnliches Spielzeug gehabt zu haben. Auch zu seiner Zeit waren die Pfeile nie auf dem glatten Untergrund der Zielscheibe haftengeblieben.
Sah eigentlich ganz wohnlich aus. Nachdenklich verließ er die Station. Er hatte immer noch Schwierigkeiten, die Denkweise des Krankenhauspersonals anzunehmen. Anscheinend sahen alle die Insassen der Station nur als Kranke an, denen geholfen werden mußte. Niemand schien sich Gedanken über die Dinge zu machen, die sie getan hatten, oder über die Opfer, die auf der Strecke geblieben waren.
Natürlich war diese professionelle Betrachtungsweise nötig, um psychisch kranken Straftätern unvoreingenommen gegenübertreten zu können und dadurch eine Therapie erst möglich zu machen. Für ihn jedoch, der aus einer anderen Ecke die Bühne betreten hatte, sah alles etwas anders aus. Fünfundzwanzig Jahre Umgang mit Verbrechen und Verbrechern hatten seine Ansichten geprägt. Oft war er Grenzfällen begegnet, bei denen sich die Unterschiede zwischen Gut und Böse verwischten, oder Tätern, die wirklich in eine Sache hineingeschlittert waren, ohne sich helfen zu können. Trotzdem war er der Ansicht geblieben, daß derjenige, der Unrecht getan hatte, dafür bestraft werden mußte, und zwar in einem Maße, daß er die Strafe auch merkte. Das garantierte zwar nicht die Besserung des Delinquenten, war aber wichtig für das Gerechtigkeitsempfinden der anderen Bürger im Lande.
Bei der Morgenbesprechung des nächsten Tages gab es wenig Input der Kollegen. Meyer fehlte wegen eines Außeneinsatzes, so daß auch die humoristische Komponente etwas zu kurz kam. Hinterher setzte Fröhlich sich wie gewohnt an seinen Schreibtisch. Der vollständige Bericht der Spurensicherung lag vor. Er hatte zwar den Großteil der Fakten schon mündlich von seinen Kollegen erfahren, wollte aber alles noch einmal gründlich studieren. Mit einem Streichholz in den Zähnen stochernd, schlug er die Mappe auf.
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