Burkhard Ziebolz
Im tiefsten Dunkel - Kriminalroman
Saga
Im tiefsten Dunkel – Kriminalroman Copyright © 2000, 2019 Burkhard Ziebolz und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726086799
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Die Wasseroberfläche lag vor ihm wie ein riesiger, schwarzer Spiegel. Von der Tür aus sah Coubert jedes Detail des Bassins. Der Mond schien hell in dieser Nacht, fast so hell wie die Sonne tagsüber.
Keine Zeit für Schlaf, schon gar nicht, wenn ihn so viele Gedanken quälten. Sie begannen als sanftes Säuseln, bissen sich fest, zerrten an losen Stellen, und am Ende fegten sie wie ein Sturm durch jeden Winkel des Gehirns und ließen nichts zurück als Zweifel und Verwirrung.
Durch die Fenster des Wasserturms drängte das kühle Licht herein. Später würde der Mond sich in der Schwärze des Wassers spiegeln. Es war eines der Geheimnisse dieses verwunschenen Orts, dass nichts von dem, was unter der Wasseroberfläche war, sich jemals zu erkennen gab. Sogar an hellen Sommertagen, wenn das Licht spärlich durch die kleinen Fenster sickerte, reflektierte das Wasser lediglich seine Umgebung und enthüllte nichts von dem, was es bedeckte. Wenn es denn überhaupt etwas gab dort unten. Ein Physiker hätte sicherlich eine Erklärung dafür gefunden, aber Coubert, der nicht immer Coubert gewesen war, suchte nicht danach. Er nahm es hin und genoss die Magie, so wie er viele andere Dinge zu genießen gelernt hatte.
Wie oft hatte er nachts hier schon rauchend gestanden und in das Wasser geblickt, das in träger Dunkelheit einen langen Schlaf zu schlafen schien? Fast immer hatte er fast ängstlich auf etwas gewartet, war sich fast sicher gewesen, dass es kommen würde, die Ruhe zu stören. Vielleicht würde sich der klare Spiegel eintrüben, Schlieren werfen und Nebel aufsteigen lassen, aus denen sich dann Bilder von fremden Orten herausschälen. Bilder aus der Vergangenheit. Oder Bilder aus der Zukunft.
Oder das Silber des Wassers würde sich erheben in Säulen, die sich langsam zu menschlichen Körpern formten, rein silbern zwar, aber sonst in jeder Einzelheit wie die Bilder, die er tief in seinem Inneren vergraben hatte und die nun schon so lange tot waren.
Wesen der Vergangenheit. Darauf wartete er, wartete furchtsam, denn die Bilder konnten nichts Gutes bringen, sondern nur altvertraut Schlechtes. Sie konnten ihm nur das bringen, was er sowieso schon sah, jede Nacht, in seinen Träumen, wenn er sich in seinem Bett hin und her warf.
Aber niemals geschah etwas, immer nur war Frieden und Stille. Er stand und rauchte und sah auf die kleine Wasseroberfläche, und wenn ihm dann kalt wurde, zog er den Kragen enger und ging hinunter in sein Zimmer, zu der wenigen Habe, die ihm etwas bedeutete.
Manchmal aber, wenn er sich ganz schwach fühlte und seinen Gespenstern nicht zu trotzen vermochte, fuhr er mit dem winzigen Boot hinaus, von dem aus die Wartungs- und Reinigungsarbeiten an der Mauer gemacht wurden. Es war gerade groß genug für einen Mann. Er setzte sich, machte einen Schlag mit dem Paddel und befand sich sofort mitten auf dem kleinen See. Und seltsam, er war nur wenige Meter von der Treppe entfernt, hinter der seine Gegenwart lag, aber es schienen ihm viele Kilometer, und es schienen ihm viele Jahre, und er wurde ruhig.
Er beugte sich dann vornüber, barg den Kopf mit den widerspenstigen, schwarzen Haaren in den Händen und konnte endlich einmal ohne Schuldgefühl und Scham an das denken, was hinter ihm lag. Er konnte an sie denken, an ihre Jugend und Lebensfreude. Sie hatten wirklich gelebt, im tiefsten Sinne des Wortes, bis ein grausamer Tod sie ereilte. Sie hatten in die Zukunft geschaut, sie hatten Pläne gehabt und eine Zukunft – und sie hatten sicher mit allem gerechnet.
Nur nicht mit einem so bestialischen und unwürdigen Ende.
Die Tage vergehen in Gleichförmigkeit und Ruhe, und ich bin dankbar dafür. Ich bin dankbar dafür, hier oben so isoliert zu sein, wie man es inmitten einer Großstadt sonst nirgends sein kann, umgeben von meinen Büchern und den wenigen Dingen, die mir sonst noch gehören. Du weißt, dass ich Besitz immer als lästigen Ballast empfunden habe, aber einige wenige Dinge, so habe ich festgestellt, brauche ich doch.
Morgen besuche ich eine Auktion in einer kleinen Nachbarstadt.
Eine Reihe interessanter Folianten kommt zur Versteigerung, schon der Katalog liest sich rasend spannend wie ein guter Kriminalroman. Das Auktionshaus ist nicht unbedingt spezialisiert auf Bücher, sie haben alles und nichts, das eröffnet vielleicht die Chance auf einen wirklich guten Fang. Am liebsten sind mir immer die Posten des Katalogs, die nicht genau beschrieben sind. Konvolut von Büchern des neunzehnten Jahrhunderts, aus dem Nachlass einer jungen Dame – das birgt so viele Möglichkeiten, so viele Unwägbarkeiten, so viel Romantik. Warum hatte eine junge Dame so alte Bücher, warum verstarb sie jung? Dinge, die Stoff zum Nachdenken geben. Ein kleines Abenteuer, winzig im Vergleich zu dem, was mich früher umtrieb, aber es bringt ein wenig angenehme, kontrollierte Unruhe in mein Leben.
Ansonsten: alles beim Alten. Meine Aufgaben hier sind wenig anspruchsvoll und lassen mir Zeit für das, was wichtig ist. Ich treibe so viel Sport, wie ich kann. Ich fahre mit dem Fahrrad herum und schaue mir alles an. Ich lese viel, völlig verschiedene Dinge, Religionsgeschichte, Belletristik, Reisebeschreibungen, Philosophie. Nichts, das sich einen besonderen Platz in meiner Aufmerksamkeitsskala erwirbt. Es ist, als suche ich nach irgendetwas, nach etwas, das es wert ist, länger und intensiver beleuchtet zu werden.
Vorhin hatte ich einen meiner Anfälle von Kopfschmerz. Die Medikamente wirken sehr ordentlich, meist bin ich vollkommen schmerzfrei und klar. Nur ab und an ist es wie früher, wenn die Wirklichkeit versinkt in einer Abenddämmerung. Aber es ist nie für lange, schon nach ein paar Minuten bin ich wieder im Diesseits. Der Arzt sagte, dass es anfangs so sein würde. Die neuen Tabletten unterscheiden sich etwas von den alten.
Vor vierzehn Tagen war ich bei einer Auktion. Eine große Auktion mit vielen Posten, aller Art und Herkunft. Es gab Bilder in Öl und Tempera und Federzeichnungen. Es gab Möbel, es gab Schmuck in Hülle und Fülle, Plastiken, sogar ein paar alte Autos, die aussahen wie fabrikneu. Und es gab eine ganze Anzahl Bücher, Klassiker und solche, die einfach nur schön waren, und viele, die nichts weiter darstellten, aber zumindest eine gewisse Originalität hatten. Und im hintersten Winkel des Saales – ein grauer Karton.
Einer der Posten war ein Pappkarton voller Bücher ohne nähere Beschreibung. Die meisten Bücher waren in schlechtem Zustand – so schlecht, dass ihr Äußeres sicherlich ausreichte, bei den bibliophilen Besuchern der Auktion echten Ekel auszulösen. Keiner von denen ließ sich dazu herab, die Kiste auch nur anzufassen. Meist glitt ihr Blick darüber hinweg, als wäre sie nicht da.
Aber ich untersuchte sie gründlich.
Der Zustand war wirklich eine Schande, eine Wüste von schmutzig-brauner Grundfarbe. Einbände hingen nur noch an wenigen Fäden oder waren völlig verschwunden. Seiten fehlten, waren vergilbt, geknickt, zerrissen, angesengt. Es schien nichts als Ramsch zu sein, Überbleibsel alter Auktionen der letzten zwanzig Jahre, der Bodensatz edler Bibliotheken, Dinge, zu schäbig für die Regale der Sammler.
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