Auf den zweiten Blick jedoch ... Ich schlug die Bücher auf, eins nach dem anderen. Ich fand Geschichte und Geschichten, ein paar Reiseberichte aus dem neunzehnten Jahrhundert, einige technische Werke aus derselben Zeit, Spiegel einer Epoche, die für mich schon immer zu den spannendsten gezählt hatte. Alles in allem schien mir der Karton ein Engagement wert. Ich ersteigerte ihn für ein Butterbrot, brachte ihn nach Hause. Es waren nicht allein die Inhalte der Bücher, die mich dazu bewogen. Da war noch das Gefühl, dass, wenn ich nicht kaufte, das Ganze möglicherweise in den Papiermüll wandern würde. Ich wollte retten, was anderen nichts wert war, weil sie sich nicht die Zeit nahmen, hinter die Fassade zu schauen.
Es war der späte Abend des gleichen Tages. Ein Klingeln an der Tür zum Turm – nur wenige kennen die verborgene Klingel, sonst würde sie von nächtlichen Herumtreibern sicher andauernd gedrückt werden und mich in meiner Abgeschiedenheit stören.
Hier war jemand, der sie kannte.
Ich ging hinab, öffnete die obere Tür. Vor mir lagen die Treppenstufen, die hinunter zum Brunnen führten. Es war dunkel um das Becken herum, aber die Fontäne schoss hell wie ein Feuerstrahl viele Meter in die Höhe. Später würde sie in verschiedenen Farben angestrahlt werden, eine bonbonhafter als die andere. Ich fand das immer fürchterlich, aber es gefällt den Leuten, und auch an diesem Abend gab es eine große Menge an Zuschauern, die die Grünanlage bevölkerten, auf das Schauspiel warteten oder anderen Zuschauern beim Zuschauen zuschauten.
Im Licht der Parklaternen lag ein Päckchen vor der Tür, in braunes Papier gehüllt. Kein Bote, niemand in der Nähe, der den Anschein erweckte, ein Interesse an dem Päckchen zu haben. Ich hob es auf, zerriss die Verpackung. Ein Buch fiel mir entgegen, scheinbar so alt wie die, die ich vorher gekauft hatte. Und ein Zettel mit einer Handschrift, die gleichzeitig zerfahren und doch energisch wirkte.
Dies gehörte noch in Ihre Kiste. Bitte entschuldigen Sie die späte Lieferung. Mit freundlichem Gruß, Stefan Kringel.
Ich wog das geöffnete Päckchen nachdenklich in der Hand. Kringel war der Auktionator des Abends gewesen, ich erinnerte mich an sein Namensschild auf dem Stehpult. Dass er sich wegen dieses Päckchens extra zu mir herbemühte, war seltsam. Und noch seltsamer war, dass er es mir nicht persönlich übergeben hatte.
Dem Aussehen nach passte das Buch tatsächlich zu den anderen. Immer noch in der Tür stehend versuchte ich, das Buch zu öffnen – ohne Erfolg. Die Seiten waren miteinander zu einem festen Block verklebt.
Sie schützen den Inhalt, wie eine Auster die Perle beschützt, schoss es mir durch den Kopf.
Ich trat zurück ins Dunkel des Treppenhauses und schloss die Tür. Ich zog mich zurück, um nachzudenken. Ich würde einen Weg finden, das Buch zu öffnen.
Der Atem kam immer noch leicht, die Schritte ergaben sich wie von selbst. Zehn Kilometer in den Beinen und immer noch keine Anzeichen von Anstrengung. Bernie Trautmann spürte Zufriedenheit.
Sein Weg führte ihn durch den dunkelsten Teil des Waldparks. Er lief fast ausschließlich nachts, seitdem er begonnen hatte, regelmäßig Sport zu treiben. Am Anfang war es reine Scham gewesen, die ihn dazu brachte. Einhundertzehn Kilo bei einer Körpergröße von einem Meter fünfundsechzig führte man nicht unbedingt bei Tageslicht spazieren, wenn jeder es sehen und darüber grinsen konnte. Kein Trainingsanzug war geeignet, hier etwas abzumildern.
Trautmann atmete konzentriert. Ein, aus, ein, aus. Alle drei Schritte einmal. Sein Weg, bis dahin asphaltiert, zweigte ab. Die neue Strecke führte über Waldboden, festgetreten von Hunderten Läufern und Spaziergängern. Trotzdem hatte er das Gefühl, als federe der Boden, als käme er seinen Bewegungen entgegen.
Die hundert Kilo waren schon lange Vergangenheit, aber es gab noch einen Grund für seine nächtliche Sportaktivität:
Sein Beruf ließ ihm tagsüber wenig Zeit. Er war Verkaufskraft im Einzelhandel, Herrenkonfektion – probieren Sie doch mal diesen Anzug, die Farbe ist derzeit sehr angesagt – seine Arbeitszeit war geregelt durch die Öffnungszeiten der Geschäfte: Zehn Uhr morgens bis acht Uhr abends. Bis er zu Hause war, war es – zumindest im Winter – schon lange dunkel. Morgens konnte er nicht laufen, das ließ sein Biorhythmus nicht zu, blieben also nur der Abend und die Nacht. Im Sommer war das wegen des schwül-warmen Klimas in der Stadt sowieso die beste Lösung.
Ein, aus, ein, aus. Trautmann spürte ein leichtes Ziehen im Knie. Hoffentlich blieb es dabei, ein größerer Schaden hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt. Jeder wusste, wie schnell das gehen konnte, insbesondere Leute, die so viel Sport trieben, waren sehr gefährdet.
Die Wiese zu seiner Rechten hatte die Größe eines Fußballplatzes. Leichter Dunst waberte über ihr, im Licht des aufgehenden Mondes deutlich zu sehen. Überhaupt, der Mond. Er zeigte ihm immer mehr Details seiner Umwelt, je höher er stieg, trotz der Wolkendecke, die nur teilweise unterbrochen war. Schon konnte er einzelne Äste des Unterholzes identifizieren. In einigen Tagen war Vollmond, die Bäume würden Schatten werfen, so hell war es dann.
Das Ziehen im Knie wurde stärker. Ein, aus, ein, aus. Wie immer, wenn irgendetwas im System nicht stimmte, erhöhte sich automatisch seine Atemfrequenz, ohne dass er schneller gelaufen wäre. Vielleicht war es ja doch der Meniskus, oder es waren die Bänder. In letzter Zeit traten solche und ähnliche Beschwerden immer öfter auf. Die Schweißperlen auf seiner Stirn wurden dicker. Das Laufen war ihm Lebensinhalt geworden, seitdem er innerhalb von zwei Jahren fast dreißig Kilo abgenommen hatte. Nicht auszudenken, wenn er darauf würde verzichten müssen. Der Sport gab ihm alles, was ihm das Leben sonst verwehrte: Bestätigung fand er nur hier, und er konnte sie haben, wann immer er wollte.
Ein, aus, ein, aus. Der Weg wurde wieder dunkler, der Mond schien nur noch schemenhaft durch das dichte Blätterdach über ihm. Ein heller Fleck etwa zweihundert Meter schräg vor ihm im Wald erregte seine Aufmerksamkeit. Er fixierte ihn, konzentrierte sich darauf. Das lenkte ihn von seinem Knieproblem ab. Der Fleck schien abseits des Weges zu sein, zwischen den Bäumen. Er näherte sich mit allmählich schwerer und größer werdenden Schritten. Was war da nur? Der Farbe nach konnte es Papier sein, vielleicht das Stück eines leeren Zementsacks, durch den Wind hierher geweht.
Nur noch hundert Meter Abstand zu dem hellen Fleck, und immer noch hatte er keine Ahnung, was da lag. Über die Anstrengung der Bewegung legten sich andere Gefühle, Neugier zuerst, und dann eine Art unklarer Beklommenheit.
Fünfzig Meter noch. Konturen traten hervor, verdichteten sich. Schemen wurden Gewissheit.
Dann war er heran. Er blickte auf das Bündel zu seinen Füßen. Einen Augenblick war er unfähig, zu verarbeiten, was er da sah. Es war, als sähe er sich selbst und seine Umgebung im Fernsehen. So schützte sich seit jeher der Geist vor Dingen, die ihm Schaden zufügen konnten.
Dann sickerte das Bild glasklar in sein Bewusstsein. Bernie Trautmann machte drei Schritte zur Seite und übergab sich in das dürre Gras, das den Boden zwischen den Bäumen bedeckte.
»Ein Jogger hat sie gefunden.«
Trotz der späten Stunde war es noch warm, schwül und drückend, wie so oft im sommerlichen Rheintal.
Eine Kirchturmuhr schlug leise in der Ferne. Susanne Findeisen lauschte, konnte sich aber nicht richtig konzentrieren. So verpasste sie es, die Anzahl der Glockentöne mitzuzählen bis zum Ende. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, ein letztes, teures Geschenk des Mannes, mit dem sie ihr halbes Leben verbracht hatte
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