Bei allem Dusel und dem daraus resultierenden Erfolg der letzten Jahre hatte er aber nicht vergessen, wer ihm dies alles beschert hatte. Seine Leute waren ihm wichtig, wobei ihm selber nicht ganz klar war, ob aus reeller Loyalität oder weil sie ein wichtiges Werkzeug zum Erreichen seiner Ziele waren; möglicherweise war beides der Fall. Wie auch immer, das Resultat war, dass er sich vor sie stellte, wann immer es nötig war. Und er tat, was er konnte, um sie mit Schulungen und moderner Ausrüstung noch besser und effektiver zu machen.
Dieselben Leute, die ihn schon in der Landespolitik sahen, betrachteten genau dies als seine größte Schwäche. »Seine Truppe ist seine Achillesferse«, hieß es in diesen Kreisen, »eines Tages wird einer seiner Leute Mist bauen, und er wird darüber stolpern und sich den Hals brechen.«
Susanne Findeisen saß im Augenblick von Wertheims Eintreffen bei Strasser und erstattete Bericht. Der graumelierte Enddreißiger hörte aufmerksam zu, nahm jedes Wort konzentriert auf, wälzte es schon im Kopf, wog seinen Wert ab und gab ihm eine mediengerechte Form.
»Die Spurensicherung hat nichts?«
»Nicht viel. Sie starb nicht dort, wo ihr die tödlichen Verletzungen beigebracht worden waren. Tatsächlich muss sie noch eine längere Strecke aus eigener Kraft gelaufen sein.«
»Wie weit kann man ... unter solchen Umständen denn laufen?« Strasser zog die gebräunte Stirn in kritische Falten. Er wirkte erholt; sein letzter Urlaub lag nur eine Woche zurück – der Versuch einer Versöhnungsreise auf die Malediven mit seiner zweiten Frau.
Susanne Findeisen wippte in dem Freischwinger vor dem Schreibtisch ihres Chefs. »Fast dreihundert Meter. Wir fanden ihre Hände an einem Waldweg, etwa dreihundert Meter vom Fundort des Körpers.«
Strasser stand auf, entnahm dem Humidor im Regal hinter seinem Stuhl eine Havanna und wog sie nachdenklich zwischen den Fingern. In seinem Büro durfte geraucht werden. »Das ist furchtbar. Ich darf?« Reine Formsache, aber er hielt die Zigarre kurz hoch, wartete Findeisens Nicken ab und entzündete sie dann ohne allzu viel Zeremoniell.
»Wir fanden sehr viel Blut am eigentlichen Tatort. Ein paar Reifenspuren. Zwei Zigarettenkippen, von denen ich aber nicht glaube, dass sie vom Täter – oder von den Tätern – stammen. Sie sahen schon sehr alt aus. Des Weiteren fanden sich im Gebüsch ein benutztes Präservativ und reichlich Kleenex und Toilettenpapier. Die Stelle ist nicht weit von der Straße entfernt.«
Strasser nickte nachdenklich. Bei allem Horror – die Details würden für Aufsehen sorgen, sollten sie bekannt werden der Fall hatte die Art Brisanz, die die Öffentlichkeit mobilisierte. Was nicht unbedingt von Vorteil sein musste.
»Wir schließen daraus, dass die Tat ziemlich schnell vonstatten ging. Der Täter musste damit rechnen, jederzeit gestört werden zu können. Hohes Risiko – wäre hinter ihm jemand in den Weg gefahren, hätte er ihm die Ausfahrt versperrt. Der Waldweg ist eine Sackgasse.«
»Vielleicht wusste er das nicht.« Der Polizeipräsident blies eine Rauchwolke von sich.
»Das kann natürlich sein. Das Mädchen war übrigens nackt.«
»Vergewaltigung?«
»Das wissen wir noch nicht. Ihre Kleider sind verschwunden, der Täter muss sie mitgenommen haben.«
»Gut, vielen Dank zunächst. Für heute Nachmittag werde ich eine Pressekonferenz einberufen. Halten sie sich bitte gegen drei Uhr zur Verfügung.«
Findeisen schloss einen Moment die Augen. Strasser ließ wirklich keine Chance aus, die Arbeit der Truppe und natürlich sich selbst in Szene zu setzen. Sie war da eher zurückhaltend. In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass sie in der Nacht schon ein paar Informationen an Berliner gegeben hatte, war die Pressekonferenz aber vielleicht keine schlechte Lösung. »Ist gut. Wir zeigen ein Bild, vielleicht kennt sie jemand. Bis drei Uhr müssten auch die Ergebnisse der Gerichtsmedizin vorliegen.«
Strasser nickte sein abschließendes, verabschiedendes Nicken, Signal dafür, dass andere, wichtigere Aufgaben auf ihn warteten.
Hauptkommissarin Findeisen verließ das elegante Büro, das mit alten englischen Möbeln den unaufdringlichen Charme eines Londoner Clubs des neunzehnten Jahrhunderts verströmte. Strasser, der sich gerne mit schönen Dingen umgab, hatte es vorschriftswidrig, aber geschmackvoll aus dem Privatbesitz seiner Familie ausgestattet.
Ihr eigenes Arbeitszimmer war eher schlicht mit Möbeln bestückt, die dem Dienststellenstandard entsprachen. Ein Schreibtisch mit angegliedertem Besprechungstisch, zwei Besucherstühle, Aktenschrank, Regal mit Ordnern, Computer, Telefon. Alles sauber und ordentlich, sie hasste es, wenn zu viel Papier oder etwas anderes auf der Arbeitsplatte herumlag. Alles hatte seinen Platz in ihrem Büro, und was sie nicht unmittelbar brauchte, war abgelegt, fortgeräumt oder sonst wie unsichtbar gemacht. Der Schreibtisch eines Menschen, so glaubte sie fest, gab Aufschluss über die Art, wie er dachte. Sah es hier unordentlich aus, so galt das auch für das, was in seinem Kopf vor sich ging.
Florian Wertheim saß auf einem der Besucherstühle und blickte ihr unschuldig entgegen.
Sie nickte ihm mit ernster Miene zu und setzte sich hinter den Schreibtisch. »Sie sind zu spät. Ihr Wagen war heute früh nicht auf dem Parkplatz.«
Er seufzte. »Tut mir leid. Ich hab verschlafen. Aber ich hab dafür schon die Vermisstenmeldungen durchgesehen. Wir haben ein Mädchen, dessen Beschreibung auf die Tote passt.«
Susanne Findeisen nickte wieder. »Weiter ...?«
»Verena Brenner. Gestern von ihrer Mutter als vermisst gemeldet, davor zwei Tage verschwunden.«
»Angenommen, sie ist es, und sie ist letzte Nacht getötet worden. Wo war sie in der Zeit davor?«
»Vielleicht bei Freunden. Die Mutter erwähnte, dass sie einen Streit mit ihr gehabt habe. Danach sei sie aus dem Haus gelaufen.«
Die Hauptkommissarin stand auf, ging hinüber zur Kaffeemaschine, wo seit einer Stunde das starke, koffeinhaltige Gebräu durch permanente Hitzeeinwirkung immer stärker und koffeinhaltiger wurde und fast schon die Fließeigenschaften von Bitumen entwickelte. »Auch eine Tasse?«
Wertheim schüttelte verneinend den Kopf. Seine Ansprüche an Aroma und Konsistenz von Kaffee lagen deutlich über dem Durchschnitt der Dienststelle. Meist verzichtete er daher ganz darauf, wenn er im Büro war, obwohl er in letzter Zeit be sich einen Gewöhnungseffekt festgestellt hatte.
Sie goss sich einen Becher ein, strich sich die kurzen Haare zurück und nahm einen vorsichtigen Schluck.
»Also schön. Gibt’s schon was aus dem Labor?«
»Ich hab angerufen, aber sie wissen ja, wie Saalfelder ist. Er rückt wenig raus, bevor der Bericht wirklich fertig ist. Immerhin konnte ich von ihm erfahren, dass die Tote offenbar nicht missbraucht wurde. Der Bericht kommt so in etwa einer Stunde, sagt er. Offenbar hat Strasser ihm auch schon Dampf gemacht.«
Susanne Findeisen setzte sich wieder an den Schreibtisch. »Fahren Sie zu der Mutter? Vielleicht können Sie anhand von Bildern schon mal vorchecken, ob das Mädchen überhaupt unsere Tote sein kann. Sollte sie es sein ...«
» ... dann bitte ich die Frau heute Nachmittag zur Identifizierung.«
Seine Chefin nickte. »Besser noch, Sie bringen sie gleich mit.«
Wertheim wandte sich um, war schon beinahe an der Tür, als er sich noch einmal umdrehte. Ihm war etwas eingefallen
»Es ist nur ...«
»Ja?«
»Ich habe so etwas noch nie gemacht. Wie bringe ich der Frau das bei?«
Sie beugte sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und musterte ihn prüfend. »Da gibt es kein Patentrezept. Es ist immer anders, und es wird ihnen immer wieder nahe gehen. Aber noch wissen wir ja nicht, ob sie das Opfer ist. Bisher ist es lediglich ein Verdacht. Die Frau ist noch nicht die Mutter der Toten, sondern lediglich eine Zeugin von vielen. Vielleicht versuchen Sie mal, das so zu sehen.«
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