Bernhard Hennen - Der Tempelmord. Ein Kriminalroman aus der Zeit Kleopatras

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Zwei mysteriöse Todesfälle erschüttern den Hof von Ptolemaios XII., der in Griechenland im Exil lebt, seit seine Tochter Berenike ihn vertrieben hat. Sein Leibdiener und eine seiner Geliebten werden grausam ermordet. Der Pharao fürchtet um sein Leben, und er beauftragt ausgerechnet die Priesterin Samu und den griechischen Arzt Philippos, die Morde aufzuklären. Beide sind sich im Grunde spinnefeind, aber sie haben nur zusammen eine Chance, den geheimnisvollen Giftmischer zu finden.
Die eigene Tochter Berenike hat den Pharao Ptolemaios XII. vom Thron vertrieben. Doch auch im fernen Ionien ist der Herrscher seines Lebens nicht sicher. Einer seiner Diener und seine Geliebte fallen einem Giftanschlag zum Opfer. Ptolemaios beauftragt die Isispriesterin Samu und den Arzt Philippos, die Morde aufzuklären. Beide geraten an Verschwörer, die nichts Geringeres vorhaben, als das ganze römische Imperium zu stürzen.
Bernhard Hennen, Jahrgang 1966, studierte Germanistik, Geschichte und Altertumskunde. Er lebt in Köln und arbeitet als freier Autor und Journalist, u.a. für Radiostationen.

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Für eine Dryade, die mich einen Winter lang in ihr Zauberreich entführt hat.

1 KAPITEL Der infernalische Lärm des Festzuges übertönte sogar das - фото 1

1. KAPITEL

Der infernalische Lärm des Festzuges übertönte sogar das allgegenwärtige Geschrei der Möwen, die, wie von einem Zauber angezogen, Tag und Nacht um den riesigen Tempel kreisten. Dabei hatte die Spitze der Kolonne noch nicht einmal das Gelände der kleinen Tempelstadt rund um das Artemision erreicht. Philippos blickte kurz an sich hinunter und zupfte einige Falten seiner Toga zurecht. Er war der einzige im Hofstaat des Ptolemaios, der das Ehrengewand eines römischen Bürgers trug.

Wie die anderen Vertrauten des geflohenen Königs hatte er sich auf den Stufen des Tempels eingefunden, um dem Festzug zu Ehren der Göttin Artemis beizuwohnen. Mit ihren fremdartig geschnittenen Leinengewändern und ihrem kostbaren Schmuck hätten die Ägypter überall in der zivilisierten Welt sicherlich Aufsehen erregt, doch hier, in Ephesos, war das nichts Besonderes. Zum Fest der Göttin hatten sich Gäste aus allen Teilen der Welt eingefunden. Makedonische Söldner mit kantigen Gesichtern, Parther in bunten Seidengewändern, die kostbarer als Gold waren, Kaufleute aus Tyros, denen die geölten und parfümierten Bärte bis weit auf die Brust hinabreichten, blonde Galater mit beunruhigend blauen Augen, so wie man sie sonst nur bei den Barbaren aus Gallien und Germanien antraf, ja, sogar einige Römer in schlichten Togae waren Philippos in der Menge aufgefallen.

Ein paar Ägypter, und sei es selbst der Hofstaat eines geflohenen Königs, erregten in diesem Völkergemisch kein Aufsehen. Philippos stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser den Beginn der Prozession sehen zu können, die keine hundert Schritt mehr entfernt war. Unmittelbar vor dem Arzt stand Potheinos, der erste Eunuch und engste Berater des Königs.

Mit seinem schlanken, hageren Körper verstellte er ihm die Sicht. Wie die meisten Beamten des Hofes trug auch Potheinos eine Perücke aus schwarzem Pferdehaar, und Philippos konnte sehen, wie sich glänzender Schweiß in den Falten am Hals des Beschnittenen sammelte. Der Grieche grinste. Wahrscheinlich betete der Kerl gerade zu irgendeinem dieser tierköpfigen ägyptischen Götter um Hilfe, damit ihm der Schweiß nicht die Schminke verwischte. Daran, daß sich bei den Ägyptern auch die Männer schminkten, würde er sich niemals gewöhnen.

Mit einem leichten Stoß in die Rippen riß ihn die Isispriesterin neben ihm aus seinen Gedanken. Sie zeigte auf die Spitze der Prozession und versuchte, ihm etwas zu sagen. Philippos sah, wie sich ihre Lippen bewegten, doch in dem infernalischen Lärm konnte er Samu nicht verstehen. Einen Moment lang verweilte sein Blick auf dem Antlitz der schönen Isispriesterin.

Auch sie war so stark geschminkt, daß ihr Gesicht nicht menschlich, sondern wie eine starre Maske aussah. Zwei breite, schwarze Striche rahmten ihre Augen und zogen sich bis zu ihren Schläfen. Die Augenlider hingegen hatte sie sich mit einer körnigen, blauen Paste bestrichen. Ihre Wangen waren mit rotem Ocker eingerieben, und ein noch tieferes Rot glänzte auf ihren Lippen. Philippos wußte, daß sie mehr als eine Stunde brauchte, um diese Maske anzulegen und ihr Haar mit duftenden Ölen zu behandeln. Der Erfolg dieser Strapaze war unbestreitbar. Samu wirkte zugleich anziehend und unnahbar, sinnlich und kalt. Daß sie obendrein auch noch intelligent war und die Schriften des Hippokrates mindestens ebenso gut kannte wie er selbst, ließ die Priesterin dem Arzt vollends unheimlich werden. Es gehörte sich einfach nicht, daß Frauen mehr wußten als Männer! Jedenfalls nicht in Bereichen wie Philosophie und Medizin.

Ein wenig mürrisch wandte sich Philippos von ihr ab und betrachtete wieder die Prozession. Die erste Gruppe, das Priesterkollegium der Kureten, war schon fast an ihnen vorbeigezogen. Die Männer trugen tönerne Daimo-nenmasken und dunkle Gewänder. Die meisten von ihnen waren mit Speeren und Schilden bewaffnet. Wie in Ekstase hieben sie mit den Waffen auf ihre bronzebeschlagenen Schmuckschilde. Andere schlugen Handtrommeln oder bliesen auf kunstvoll gewundenen Fanfaren. Mit ihrem Lärmen hatten die Kureten, die in alten Legenden ein Geschlecht von Bergdaimonen waren, einst die zornige Hera von der Geburt der Artemis abgelenkt. Sie hatten ihr Schicksal mit der Göttin verbunden, und so war es noch heute, denn die Priester des Kuretenkollegiums hatten sich vollkommen den Priesterinnen der Artemis unterworfen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie an diesem Morgen mit ihrem Lärmen den Festtag eröffnet. Es war der sechste Thargelion, der Geburtstag der Artemis, der heute in Ephesos gefeiert wurde, das bedeutendste Fest des Jahres. Ein Tag, an dem auch Dutzende von Hochzeiten begangen wurden, denn es hieß, daß jede Frau, die heute ihren Liebsten empfing, fruchtbar sein würde.

Philippos lächelte versonnen. Vielleicht würde auch er heute abend Glück haben, wenn sich die Dämmerung herabsenkte und das ausgelassene Treiben in den Straßen der Stadt seinen Höhepunkt erreichte.

Hinter den Kureten folgte der schwergewichtige Mega-byzos, der Vorsteher des Tempels. Er trug ein langes, weißes Gewand, dessen Saum fast bis auf den Boden reichte. Obwohl er mehr als zehn Schritt entfernt vorbeiging, konnte Philippos ihm doch ansehen, wie erschöpft er war. Fast schien es, als halte er sich an der Kette aus dicken Bernsteinperlen fest, die er um seinen Hals geschlungen hatte, und kaum konnte er seinen mit einer hohen Tiara geschmückten Kopf aufrecht halten. Doch statt weiter über den Zustand des dicken Megabyzos nachzugrübeln, den die Prozession offenbar an die Grenzen seiner Kraft geführt hatte, musterte der Arzt jetzt lieber die Jungfrauen des Artemisions, die dem Tempelvorsteher folgten. Ein leiser Seufzer entfuhr Philippos. Es war, als hätten Nymphen und Nereiden sich zu einem Festzug vereint. Die Priesterinnen trugen allesamt kurze, strahlend weiße Gewänder, die ähnlich wie der Chiton ihrer Herrin geschnitten waren. Ja, sie schienen wahrhaft Abbilder der Artemis zu sein, der ebenso schönen wie unnahbaren Göttin der Geburt und der Jagd. Kaum verhüllte der dünne Stoff ihre schlanken, jugendlichen Körper. Manche der Priesterinnen trugen Bronzehelme mit schwarzen Pferdeschweifen und zeigten, begleitet von Flötenspiel, ausgelassene Waffentänze, eine Anspielung auf das kriegerische Volk der Amazonen, das einst in Ephesos den ersten Tempel der Göttin errichtete.

Was könnte schöner sein, als eines dieser wunderbaren Geschöpfe in den Künsten der Aphrodite zu unterweisen, dachte Philippos. Hirngespinste! Nervös leckte sich der Grieche über die trockenen Lippen. Die Priesterinnen der Artemis waren den Ephesern genauso heilig wie den Römern die Vestalinnen. Wer ihnen auf unkeusche Weise nahe kam, der hatte sein Leben verwirkt. Womöglich würde sogar die Göttin selbst den Frevel strafen und einen ihrer todbringenden Pfeile vom Himmel hinabschießen. Ja, vielleicht empfand sie sogar seine Gedanken schon als Beleidigung. Artemis galt als sehr launisch ... Philippos blickte zum strahlend blauen Himmel. Nicht eine Wolke zeigte sich, und es gab auch sonst keine beunruhigenden Zeichen.

Erleichtert wandte der Grieche sich wieder dem Festzug zu.

Was verschwendete er seine Gedanken an die unerreichbaren Priesterinnen! Es gab auch genug hübsche Flötenspielerinnen und Tänzerinnen in der Stadt. Mit dem Gold, das er von Ptolemaios für seine Dienste erhielt, könnte er sich jedes Vergnügen kaufen! Allein ein Monat als Leibarzt des Königs brachte ihm mehr ein als ein ganzes Jahr in der Legion. Wenn er sich noch ein paar Jahre bei Hof halten konnte, dann hätte er ein Vermögen verdient und könnte als reicher Mann nach Athen zurückkehren.

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