Die Zahl der Nebelschwaden nahm zu. Vielleicht würde es doch keinen Regen geben. Wo es nebelte, fiel kein Regen.
»Mehr wissen wir noch nicht. Keine Zeugen, keine Identität, keine Hinweise auf den Täter. Die Frau ist verblutet, die genaue Ursache dafür muss die Obduktion ergeben. Sehen Sie, jetzt wissen Sie schon alles, was ich selber weiß und Ihre Kollegen erst heute Nachmittag erfahren werden. Und nun gehen Sie nach Hause und schonen Ihren Rücken.«
Sie sah ihm hinterher, wie er langsam und schnaufend seinen Weg zurückging. Bevor er außer Sichtweite geriet, wandte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Sie reagierte nicht.
Hinter ihr räusperte sich Wertheim. »Wir wären soweit.«
Sie nickte. Die Spurensicherer packten ihre Sachen, gingen im Gänsemarsch den Weg zurück zu den Fahrzeugen; der Vorderste leuchtete mit einer hellen Lampe. Einer der Uniformierten aus der Rauchergruppe sprach in ein Handy. Ein paar Minuten später erschienen zwei dunkel gekleidete Männer auf dem gleichen Weg, auf dem Berliner und die Spurensicherer entschwunden waren. Sie näherten sich der Toten in professionellem Respekt, nahmen sie vorsichtig auf und legten sie in eine Art Plastiksack mit Tragegriffen an den Enden.
Das Letzte, was Susanne Findeisen von der Leiche sah, war ein schwarzer, feuchter Haarschopf, unordentlich über einer schneeweißen, in unmenschlicher Qual verzerrten Stirn.
Dann schloss sich der Reißverschluss wie der Vorhang am Ende eines Theaterstücks.
Liam Coubert hatte sich schon immer für Bücher interessiert. Früher waren sie Abenteuer für ihn gewesen, jedes Buch eine neue Welt, eine andere Zeit. Er besuchte Schatzinseln, kämpfte gegen Indianer und erkundete den Orient, oder er flog mit Raumschiffen ins All und zu den Planeten. Später wurden sie ihm Freunde, einige begleiteten ihn über viele Jahre. In trüben Zeiten wurden sie ihm Trost, gestatteten ihm immer wieder kleine Fluchten, an den Tagen, an denen sich das Leben von seiner schwarzen Seite zeigte.
Und es hatte viele dieser Tage gegeben.
Mit der Zeit war so eine kleine Sammlung zusammengekommen. Er war kein typischer Leser, und er war kein typischer Sammler von Büchern. Er bevorzugte kein Genre, es waren auch nicht unbedingt die Erstausgaben oder die alten, in Leder gebundenen Folianten oder die bibliophilen Sonderausgaben, die ihn interessierten. Für Coubert war an einem Buch lediglich wichtig, dass es ihn irgendwie ansprach. Die ausschlaggebenden Reize konnten dabei vollkommen unterschiedlich sein. Er nahm ein Druckwerk in die Hand und wusste, mit diesem würde er eine Beziehung eingehen können für-eine gewisse Zeit oder für immer. Manchmal, wenn ein Klappentext vorhanden war, fand er den nötigen Anreiz dort, aber manchmal war es auch nur ein Element der Aufmachung, des Einbandes, oder es war der Umstand, dass es zu einer Zeit oder an einem Ort geschrieben worden war, die ihm interessant erschienen. Manchmal war es eine altertümliche Type, die sich beim Druck tief in das Papier gekerbt hatte und fast mit den Fingerkuppen zu lesen war. Bisweilen fand er eine merkwürdige, Fragen aufwerfenden Widmung – und schon war es um ihn geschehen. Niemals suchte er nach diesen Dingen, vielmehr hatte er das Gefühl, sie fanden ihn, wenn er in Antiquariaten, auf Flohmärkten oder Auktionen herumging und in dem wühlte, was andere meistens keines Blickes würdigten.
Da stand er nun, mit dem alten Buch in der Hand, dessen Inhalt in einem massiv verklebten Block alten Papiers verborgen war. Er wog es in der Hand. Coubert schätzte das Gewicht auf fast ein Kilo, was schwer war für ein Buch dieser Größe. Der Einband war aus stabilem Pappendeckel von fleckigem Hellbraun und zeigte keinerlei Schrift, keinerlei Hinweis auf Inhalt oder Verfasser. Nur eines war vorhanden und hob dieses Buch für Coubert von allen anderen ab. Auf dem, was er für die Rückseite des Bandes hielt, gab es einen Fingerabdruck, und wenn ihn nicht alle seine Erfahrungen täuschten, war es ein blutiger Finger gewesen, der diesen Abdruck verursacht hatte.
Langsam ging er die lange Treppe hinauf in die Wohnung, in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durchspielend, die Seiten voneinander zu lösen. Coubert entschied sich dann für Wasserdampf. Die kleine Küche verfügte über einen Elektroherd. Schnell setzt er Wasser auf und stellt die Platte auf die höchstmögliche Stufe. Nach einiger Zeit bildeten sich am Grund des Topfes kleine Bläschen, die sich ablösten und nach oben stiegen. Es wurden mehr und mehr, und sie wurden größer und größer, und nach einer Viertelstunde stieg Dampf aus dem brodelnden Wasser. Er hielt das Buch hinein, sah zu, wie sich das Papier allmählich dunkler verfärbte. Mehr sah er aber nicht. Die Seiten blieben verklebt.
Er versuchte es noch eine Weile, dann gab er enttäuscht auf. Mittlerweile war es sehr spät geworden, und er beschloss, zu Bett zu gehen. Ein neuer Tag würde ihm vielleicht andere Ideen geben. Oder er konnte jemanden anrufen, der sich besser mit solchen Dingen auskannte.
Gegen Morgen erwachte er aus einem von Träumen zerrissenen, leichten Schlaf. Wie fast jede Nacht hatten ihn die Gespenster der Vergangenheit aufgesucht, seine Seele gegeißelt. Es war lange her, dass er eine Nacht wirklich gut geschlafen hatte. Manchmal, wenn er im Sommer in dem kleinen Park vor dem Turm in der Sonne saß, wurde das Verlangen nach einer Zeit völliger Entspannung fast übermächtig, das Sehnen nach tiefem, traumlosem Schlaf. Auch für sein Leiden wäre das von Vorteil gewesen. Keines der Schlafmittel, die er ausprobiert hatte, hatte ihm helfen können. Psychologische Hilfe konnte er nicht aufsuchen, ohne sich und seine Vergangenheit zu offenbaren – und dies wollte er auf keinen Fall.
Coubert stand auf, ging in die Küchenecke und drückte den Netzschalter der Espressomaschine. Lautlos begann sie ihr Leben, ein Kontrolllicht leuchtete auf, nach einer Minute ein zweites. Er drückte den Knopf an der Maschine, und lärmend startete der Automat den Spülvorgang. Sein Blick schweifte durch die Küche, die vom sanften Licht der Morgensonne erhellt war. Sie war schlicht und funktionell eingerichtet, der Kaffeeautomat war der einzige Luxus, den er sich hier gegönnt hatte.
Coubert blickte aus dem Fenster.
Die Stadt zu seinen Füßen erwachte gerade zum Leben, mit zögerlichen Bewegungen erprobte sie ihre Kraft. Die Morgenstunden von sechs bis acht Uhr waren ihm am liebsten. Im Sommer war es noch nicht zu heiß, und es war noch keinerlei Hektik zu spüren.
Er ließ Kaffee in einen einfachen Becher aus weißer Keramik laufen, gab Milch aus dem Kühlschrank hinzu. Dann fiel sein Blick auf das Buch, das er nach den vergeblichen Versuchen mit dem Wasserdampf neben dem Herd hatte liegen lassen. Irgendetwas daran war verändert. Er trat näher.
Der Papierblock war lockerer geworden. Als er ihn in die Hand nahm, sah er, dass sich die Seiten leicht voneinander trennen ließen.
Das Buch gab sein Innerstes frei.
Vorsichtig löste Coubert die erste Seite, sorgsam darauf achtend, dass keine Partikel der darunter liegenden Seite kleben blieben. Es gelang sehr gut. Das Buch erwachte unter seinen Händen zum Leben.
Was dort gedruckt stand, war alt klingendes Französisch, aber er hatte keine Schwierigkeiten damit. Die Zeit in der Legion hatte ihn vieles gelehrt, und einiges davon verursachte keinen Ekel in ihm.
Er las es, einmal, zweimal, und dann noch mal, um völlig sicher zu sein.
Ein Kürzel, das er zwar nicht kannte, dessen Sinn sich ihm aber im Zusammenhang erschloss. Namen, die ihm bekannt waren, aus dem berühmtesten Werk von Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. Die Hauptfigur, Edmond Dantes. Dann ein Hinweis auf die Nebenhandlung, Dantes’ Zeit vor der Rache, auf die er so lange zuarbeitete. Ein Stück Historie, die Ereignisse im Janina zur Zeit der Türkenherrschaft, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Noch ein Hinweis auf Geschichte, auf das Schicksal des Herrschers von Janina, Ali Pascha und seiner Familie. Dann wechselte der Ort, von den Resten eines riesigen Schatzes war die Rede, der irgendwo hingebracht worden war, in deutsche Lande, an einen Ort in dem Mittelgebirge, das als Pfalz bekannt war und nicht weit von Mannheim entfernt lag.
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