Bei aller Unterschiedlichkeit gab es jedoch viele Gemeinsamkeiten. Der Wandschmuck bestand überwiegend aus Postern, wobei Rockgruppen und Sportmotive vorherrschten. Auch Radios oder kleine Stereoanlagen gehörten meist zur privaten Ausstattung.
Eines der Zimmer erschloß sich seinem Blick, weil gerade eine Schwester hineingegangen war und die Tür hinter sich offengelassen hatte. Es stach auf merkwürdige Weise so stark von den anderen ab, daß er es einfach genauer betrachten mußte. Er trat näher.
Als erstes fiel ihm auf, daß persönliche Gegenstände und Dekoration fehlten, so daß er zunächst dachte, der Raum stünde leer. Auf den zweiten Blick bemerkte man aber doch schwache Spuren der Person, die ihn bewohnte. Eine Flasche Wasser, halbleer, stand auf einem ansonsten kahlen Tisch, am Gestell des Bettes war ein Rosenkranz mit kleinen, schwarzen Kugeln aufgehängt. Auf dem Nachtschrank neben dem Bett stand ein Wecker und das gerahmte Bild eines etwa zwölfjährigen, hübschen Mädchens mit langen, blonden Haaren. Es stand auf einer gepflegten Rasenfläche vor einem großen Haus und lächelte freundlich in die Kamera. Der Raum war von klinischer Sauberkeit und wirkte fast steril. Er strahlte die Leere einer Theaterkulisse aus.
Die Schwester hatte das Fenster geöffnet und drehte sich gerade um. Als sie so plötzlich den Zuschauer im Türrahmen bemerkte, fuhr sie erschreckt zusammen.
Fröhlich lächelte sie beruhigend an. »Ich bin Hauptkommissar Fröhlich und untersuche den Mord an Dr. Morgenstern. Wissen Sie, wo Schwester Barbara ist?«
»Die haben Sie gerade gefunden«, antwortete die Frau, die sich schon wieder von ihrem Schrecken erholt hatte.
Sie war Mitte Zwanzig und auf unaufdringliche Art hübsch. Ihre rotblonden Haare reichten sehr lang den Rücken hinunter. Sie machte keinen so harten Eindruck wie Schwester Edith und ließ sicher öfter mal fünfe gerade sein. Diese Eigenschaft war ihr aber bei der Arbeit bestimmt nicht hinderlich, sondern machte ihr den Umgang mit den Patienten wahrscheinlich eher leichter.
Fröhlich trat in das Zimmer. »Ist das der Raum von Tobias Kronburger?« fragte er, einer plötzlichen Eingebung folgend.
»Woher wissen Sie das?«
»War nur so ein Gefühl. Was macht er, wenn er in seinem Zimmer ist? Ich sehe hier keine Bücher, kein Radio, keine Spiele, mit denen man sich beschäftigen kann.«
»Wenn er hier ist, schläft er, oder... er denkt nach. Meistens ist er aber draußen irgendwo.«
»Heißt ›draußen irgendwo‹ bei Dr. Frenzel?«
Barbara sah ihn abschätzend an. »Ja, das heißt es. Zumindest meistens.«
»Wundern Sie sich bitte nicht über meine Kenntnisse der Gegebenheiten hier. Ich habe schon mit einigen Ihrer Kollegen gesprochen.« Fröhlich lächelte sie wieder an, und sein sonst eher nachdenklich wirkendes Gesicht verwandelte sich in das eines kleinen Jungen. Sie lächelte zurück.
Er ging an ihr vorbei zum Fenster, das, wie alle Fenster der geschlossenen Abteilung, nach innen zu öffnen und mit dicken Gitterstäben gesichert war.
Über einen schmalen, asphaltierten Innenhof mit Basketballkorb und aufgemaltem Spielfeld hinweg sah er auf den südlichen Ostflügel des H-förmigen Grundrisses. Auch dort waren alle Fenster vergittert. Er war erstaunt: Von seinem Standort aus hatte er einen direkten Blick in das Mordzimmer und - einige Türen weiter - in Dr. Frenzels Büro, das ebenfalls im zweiten Stock lag. Das Schwesternzimmer, in dem er die Stationsschwester befragt hatte, mußte sich demnach auf der diesen Räumen gegenüberliegenden Seite des Flures befinden.
»Warum sind die Büros der Ärzte und das Schwesternzimmer so weit von der Station und den Patienten entfernt?«
Fröhlich beobachtete Frenzel im Fenster gegenüber, wie er, offensichtlich sehr aufgeregt, mit jemandem telefonierte. Der Doktor saß mit dem Rücken zu ihm und bemerkte ihn nicht. Dann fiel sein Blick wieder in Dr. Morgensterns Büro. Es schien greifbar nahe. War es möglich, daß... Ein Gedanke begann in seinem Hirn Gestalt anzunehmen, eine Idee, wie der Toten möglicherweise das Gift verabreicht worden war.
»Frau Morgenstern hielt es für richtig. Wenn sie an Schreibarbeiten saß, wollte sie absolut ungestört sein. Sie wollte auch, daß das Personal in den Pausen räumlich getrennt von der Station ist, um sich besser erholen zu können. Außerdem wurden, als die Station eingerichtet wurde, alle Zimmer für die Patienten gebraucht. Wir waren damals voll belegt.«
»Und wie ist die Belegung jetzt?«
»Einige Zimmer sind im Moment frei, zum Beispiel die beiden neben diesem hier. Es würde sich aber nicht lohnen, mit den Diensträumen umzuziehen - wer weiß, ob wir nicht bald wieder Neuzugänge kriegen.«
Das sah Fröhlich ein.
»Diese Station ist völlig von der Außenwelt abgeschottet. Wer kommt hier herein oder heraus?«
»Für das Personal gibt es natürlich unbegrenzten Zutritt. Alle, die hier arbeiten, wurden besonders dafür ausgebildet und einer strengen Sicherheitsüberprüfung unterzogen, bevor sie die Genehmigung bekommen haben. Der engere Kreis des Pflegepersonals hatte sogar Judounterricht!« Man sah ihr die Begeisterung darüber jetzt noch an. »Polizei darf natürlich auch herein, normalerweise nach Absprache mit den behandelnden Ärzten. Und natürlich - mit Erlaubnis der Vollzugsbehörden und der behandelnden Ärzte und unter zeitlicher Begrenzung - Verwandte und Freunde der Patienten.«
»Wie groß ist der ständige Personalstamm?«
»Neben Dr. Morgenstern und Dr. Frenzel noch vier Schwestern und sechs Pfleger. Zwei der Pfleger und eine der Schwestern kommen übrigens aus dem Strafvollzug und haben sich für die Aufgabe hier weiterbilden lassen. Montags bis freitags kommen zwei Lehrer. Wir können hier zwar keine Berufausbildungen wie im Strafvollzug bieten, aber die jungen Leute sollen wenigstens etwas Allgemeinbildung bekommen. Sie nehmen das übrigens meistens auch gut an und kommen besser voran als früher draußen.«
Was Wunder, dachte Fröhlich. Hier gab es viel weniger Ablenkung.
»Könnten Sie mir eine Liste mit allen Namen geben? Wir müssen natürlich jeden überprüfen«, bat er.
Die Schwester nickte. »Natürlich.«
»Wie ist denn der Tagesablauf? Gibt es einen Stundenplan?«
»Natürlich, wie in jedem Krankenhaus. Um halb sieben wird geweckt, sieben Uhr Frühstück. Danach, etwa ab acht, Schule. Um dreizehn Uhr Mittagessen, danach Gruppen- oder Einzeltherapie. Diejenigen Patienten, die keine Therapie haben, haben weiter Unterricht. Ab siebzehn Uhr Freizeit, ab zweiundzwanzig Uhr Bettruhe. Die erste Schicht des Pflegepersonals arbeitet von sechs bis vierzehn Uhr, die zweite von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr. Nachts ist das Personal auf zwei Personen reduziert.«
»Wie verbringen die Patienten ihre Freizeit?« wollte Fröhlich wissen.
»Die Interessen sind unterschiedlich. Lesen, Musik, Fernsehen im Aufenthaltsraum. Es gibt keine Fernseher in den Zimmern, die jungen Leute sollen sich begegnen und lernen, miteinander umzugehen. Einige treiben Sport unten im Hof. Ein Mädchen hat einen Hamster; was glauben Sie, wie schwierig es war, dafür eine Genehmigung zu kriegen. Wir brauchten fast ein Jahr, um alle Beteiligten vom therapeutischen Nutzen des Tieres zu überzeugen. Bei uns entscheidet übrigens nicht nur die Krankenhausverwaltung, das wäre noch einfach. Auch das Jugendamt will gefragt werden. Und die Staatsanwaltschaft. Bei aller Humanität darf doch das strafende Moment nicht vernachlässigt werden.«
Fröhlich konnte sich gut vorstellen, welche Kämpfe das Personal mit den Behörden auszufechten hatte und wie das die tägliche Arbeit beeinträchtigen konnte. Er hatte auch seine Erfahrungen mit der Bürokratie.
»Gab es hier irgend jemanden, der mal Streit mit Dr. Morgenstern hatte?«
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