Fröhlich gratulierte sich im Stillen selbst. Er hatte den richtigen Riecher gehabt, hier lag irgendwo ein Hund begraben. Edith hatte offenbar sein Gesicht beobachtet, als er sich die Bilder ansah. Ihr eigenes wies nun einen sehr besorgten Ausdruck auf, eine tiefe, senkrechte Falte grub sich in die Stirn zwischen ihren Augen.
»So, das halten Sie für ausgeschlossen«, echote Fröhlich mit zweiminütiger Verspätung. »Warum denn?« Edith sollte keine Gelegenheit erhalten, sich wieder zu entspannen.
»Nun, keiner unserer Patienten ist unkontrollierbar oder absolut unberechenbar. Wenn Sie sie kennenlernen würden, würden sie Ihnen wie normale andere Kinder in dem Alter vorkommen. Dr. Morgenstern hatte zu allen ein gutes Verhältnis, die Patienten mochten sie. Es gab nie Aggressionen gegen sie.« Die Schwester sprach jetzt sehr schnell.
Fröhlich sah sie nachdenklich an. Er erhob sich ruckartig und ging auf die Wand gegenüber zu, wobei er Schwester Ediths Hände beobachtete. Das Taschentuch war mittlerweile derart verdichtet, daß es bei weiterer Bearbeitung sicher die Härte von Diamant annehmen würde. Sie beugte sich etwas vor, schien sich ebenfalls von ihrem Platz erheben zu wollen.
Fröhlich hatte die Wand erreicht und stand nun mit dem Rücken zu seiner Gesprächspartnerin. Er tippte mit dem Finger auf das Bild mit dem blonden Jungen und drehte sich herum.
»Wer ist das?«
Schwester Edith atmete hörbar. »Das ist Tobias Kronburger. Er ist seit drei Jahren bei uns, weil er seine Schwester umgebracht hat.« Sie schien sich beim Sprechen etwas zu fangen.
Einige Zeit war es still. Der Hauptkommissar richtete wieder den Blick auf das Bild des blonden, harmlos aussehenden Jungen. »Warum hat er seine Schwester ermordet?«
»Wir wissen es nicht. Er stammt aus guter Familie, ist gut in der Schule, immer nett, hat viele Freunde. Nur dieses eine Mal vor etwa drei Jahren ist er ausgerastet, mit der Folge, daß seine Schwester mit durchgeschnittener Kehle in ihrem Bett lag.«
Fröhlich erinnerte sich an den Fall. Ein alter Freund von der Polizeischule hatte ihn bearbeitet. Innerhalb weniger Stunden war Tobias, damals gerade elf Jahre alt, als Täter identifiziert worden. Die Tatwaffe, ein Fischmesser aus dem Besitz seines Vaters, wurde bei ihm gefunden. Sie wies einen blutverschmierten Fingerabdruck auf, der von Tobias stammte. Außerdem hatte ihn ein Zeuge kurz vor der Tat in das Mordzimmer gehen sehen. Es war eine klare Sache.
Tobias legte zwar ein Geständnis ab, gab aber später auch an, sich an den Abend der Tat nicht mehr richtig erinnern zu können. Man stellte eine partielle Amnesie fest, Hinweise auf ein Mordmotiv wurden nie gefunden.
Die Eltern waren erschüttert gewesen. Das Gericht hatte den Jungen wegen der latenten Gefahr, die von ihm ausging, auf unbestimmte Zeit in eine Heilanstalt eingewiesen.
»Dr. Frenzel ist übrigens ein alter Freund von Tobias' Vater und hat sich des Jungen intensiv angenommen«, berichtete Schwester Edith weiter. »Er hat natürlich ein starkes persönliches Interesse an der Sache, außerdem schreibt er an einer Arbeit über Tobias' Fall. Tobias mag ihn sehr und ist, wann immer er darf, bei ihm. Seine Eltern haben ihn hier noch nie besucht. Sie sind über den Verlust der Tochter noch nicht hinweggekommen.«
»Kann man verstehen«, murmelte Fröhlich bedauernd.
Er war nicht so recht zufrieden mit dem Gesprächsverlauf, hatte aber das Gefühl, im Moment nicht weiterzukommen. Deshalb verabschiedete er sich und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte.
»Wir werden uns noch einmal unterhalten müssen, Frau Sorgsam-Schröten.« Fröhlich brachte den Zungenbrecher über die Lippen, ohne anzuecken. »Sie bleiben doch in nächster Zeit in der Stadt, oder?«
Schwester Ediths Teint, der sich etwas erholt hatte, nahm wieder die Farbe ihres Kittels an. Sie versicherte, daß sie in den nächsten Tagen während der Dienstzeiten im Krankenhaus und abends zu Hause anzutreffen sei.
Fröhlich verließ das Zimmer. Vielleicht hatte er eben eine Spur gefunden. Schwester Ediths Verhalten war jedenfalls mehr als merkwürdig. Er nahm sich vor, die Akten des Kronburger-Falles noch einmal durchzugehen. Außerdem mußte er mit Tobias sprechen. Sicher würde er nicht mehr aus dem Jungen herauskriegen als die psychologisch geschulten Angestellten des Krankenhauses; aber vielleicht ergab sich jetzt, einige Zeit nach der Tat, aus dem Blickwinkel des Polizisten ein neuer Aspekt.
Er ging über den Flur der Station und nahm die Treppe nach unten. Der Grundriß der Klinik hatte H-Form, die Halle des Krankenhauses war sozusagen der waagerechte Strich des Hs. Sie war im Moment - um die Mittagszeit - fast leer. Zwei Patienten in Bademänteln mit eingegipsten Unterschenkeln - einer trug den Gips rechts, einer links - saßen auf Besucherstühlen und unterhielten sich. In der Cafeteria trank eine Frau einsam einen Kaffee. Der Pförtner des Gebäudes, der gleichzeitig die Telefonzentrale betreute, saß in seiner Loge. Es war der gleiche Mann, der Fröhlich am ersten Tag der Ermittlungen etwas über Dr. Morgenstern erzählt hatte.
Fröhlich winkte ihm jovial zu und nahm den Fahrstuhl in den ersten Stock des südlichen Westflügels, dort lag das Geschäftszimmer der Krankenhausleitung. Der zweite Stock beherbergte die geschlossene Abteilung Psychiatrie III mit den Patienten von Morgenstern und Frenzel.
An der Tür des Geschäftszimmers standen, mit weißen Plastikbuchstaben auf grauem Plastikgrund, die Namen der Schreibkräfte: Martha Grumbach und Marlene Dittmann. Fröhlich betrat das Sekretariat.
Es war ähnlich funktionell eingerichtet wie alle anderen Räume im Gebäude. An der Wand hingen eine Metalltafel, auf der mit farbigen Magnetplättchen die Dienstzeiten der Ärzte markiert waren, und ein großer Kalender mit dem Foto eines Lavendelfeldes.
Zwei Frauen, die eine jung und hübsch, saßen an sich gegenüberstehenden Schreibtischen und blickten auf, als er eintrat. Er stellte sich vor.
Die ältere erhob sich (dem Namen nach wahrscheinlich Martha, kombinierte der Polizist) und ging ihm einige Schritte entgegen. Fröhlich verlangte den Direktor zu sprechen.
»Wir haben einen Geschäftsführer.« Martha schien eine der schnippischen Vertreterinnen der Sekretärinnenzunft zu sein. Fröhlich war diesem Typ oft begegnet; aus dem Sonderstatus ihres Chefs leiteten sie auch einen Sonderstatus für sich selbst ab und gaben das nach außen weiter. Er schmunzelte.
»Professor Dr. Walkemeier hat jetzt wenig Zeit.«
»Das trifft sich gut«, antwortete er. »Ich brauche auch nur wenig. Würden Sie mich bitte anmelden?«
Marthas Gesicht war wie aus Stein gehauen. »Worum geht es denn?«
»Das sage ich ihm dann schon.« Fröhlich beobachtete belustigt, wie sich der Stein rötlich verfärbte. »Also schön: Es handelt sich um kriminalistische Erhebungen. Sie wissen ja, jeder ist verdächtig.« Er zwinkerte ihr zu.
Wieder mal in nur dreißig Sekunden einen lebenslangen Feind gemacht, dachte er, bereute aber nichts. Kleine Freuden wie diese machten das Leben lebenswert.
Martha machte auf dem Absatz kehrt und ging zu einer Tür im hinteren Teil des Zimmers. Sie klopfte gerade in der richtigen Lautstärke - respektvoll, aber nicht zu überhören. Sie trat ein, ohne die Tür hinter sich zu schließen, und man hörte leises Stimmengemurmel. Dann kam sie wieder heraus.
»Professor Walkemeier läßt bitten.«
»Das soll er nicht zweimal tun.« Mit breitem Grinsen marschierte er an ihr vorbei.
Walkemeiers Zimmer unterschied sich von den anderen, die Fröhlich bisher im Haus gesehen hatte. Es war sehr groß, etwa fünfzig Quadratmeter. Zwei Fenster ließen viel Licht herein. Die Möbel waren vorwiegend Biedermeier, sehr gut aufgearbeitet. Dunkles Braun prägte das Klima des Raumes. Zwei kleine, dunkle Gemälde mit Jagdmotiven schmückten die Wände. Wenn sie keine Reproduktionen waren, und davon ging der Hauptkommissar aus, waren sie sicherlich sehr teuer gewesen. Der Raum roch nicht unangenehm nach Pfeifentabak.
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