Der Raum, den er betrat, zeigte die gleiche produktive Unordnung, wie sie in vielen Büros zu finden war. Das Schicksal hatte die Tote mitten in der Arbeit ereilt; sie war, auf dem Stuhl sitzend, über ihrer Schreibarbeit zusammengebrochen und bedeckte diese fast vollständig mit dem Körper. Die Leiche war schon in Totenstarre gefallen. Der Kopf lag so, daß das Gesicht von der Tür abgewandt war und Fröhlich es bei Betreten des Zimmers nicht sehen konnte. Er ging um den Schreibtisch herum und registrierte das sich ihm bietende, grausige Bild mit wissenschaftlicher Neugier, ohne das Gefühl der Beklommenheit, das er immer am Schauplatz eines Mordes hatte, loswerden zu können.
Dr. Morgenstern war sicherlich unter großen Schmerzen gestorben. Die Haltung ihres Körpers war aufs äußerste gespannt, anscheinend hatte sie kurz vor ihrem Ende ein starker Krampf geschüttelt. Die weit aufgerissenen Augen schienen aus den Höhlen zu quellen, die bläulich verfärbte Zunge hing seitlich aus dem Mund. Das Gesicht war grimassenhaft verzogen und hatte eine schwarzblaue Farbe angenommen.
Vergiftet, mit einer Substanz, die heftigen Schmerz verursacht, schloß der Hauptkommissar aus dem Zustand der Leiche. Wahrscheinlich war die Totenstarre sofort und vollständig eingetreten; das passierte oft, wenn dem Tod starke Muskelanspannung voranging. Die Starre hatte den Körper auf dem Stuhl fixiert und verhindert, daß er auf den Boden fiel. Keine schönes Ende, aber welches Ende war schon schön.
Die Kollegen von der Spurensicherung trafen ein und breiteten sofort in professioneller Eile ihre Utensilien aus. Fröhlich begrüßte sie kurz, dann trat er beiseite, um sie in dem plötzlich kleingewordenen Zimmer nicht in ihrer Arbeit zu behindern.
Fröhlich saß an seinem alten, schwarzen Holzschreibtisch in der Dienststelle. In seinem Stuhl zurückgelehnt, eine Zigarette im Mundwinkel, vor sich eine Tasse starken, schwarzen Kaffee und einen Berg Akten, ließ er die Ereignisse des Vormittags noch einmal an sich vorüberziehen.
Die Tote hatte seit mehr als zehn Jahren die Abteilung Psychiatrie III des Städtischen Krankenhauses geleitet. In dieser Abteilung wurden ausschließlich Kinder und Jugendliche behandelt, die wegen brutaler Gewalttaten festgenommen worden waren und bei denen die psychiatrische Untersuchung geistige oder seelische Defekte festgestellt hatte. Die Station war vom Rest des Krankenhauses völlig isoliert, wurde mit modernster Technik überwacht und hatte einen Sonderstatus unter allen Abteilungen des Hauses.
Dr. Morgenstern hatte sich ihrer schweren Aufgabe, die Kinder wieder zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, mit einer Hingabe gewidmet, die kaum Platz für andere Beschäftigungen gelassen hatte. In ihrer knappen Freizeit hatte sie in einem Verein mitgearbeitet, der die Resozialisierung von Strafgefangenen unterstützte. Dadurch und durch ihre Arbeit hatte sie vielen ihrer früheren Patienten zu einem guten Start ins normale Leben verhelfen können.
Darüber hinaus war zunächst wenig über Dr. Morgenstern zu erfahren. Fröhlich wollte die Vernehmungen der wichtigsten Zeugen am nächsten Tag durchführen. Die spärlichen Informationen zum privaten Umfeld der Toten hatte er durch den Pförtner des Krankenhauses erhalten, der ab und zu mit ihr ein privates Wort gewechselt hatte und mit dem er mehr zufällig ins Gespräch gekommen war.
»Frau Morgenstern hatte kein Privatleben«, hatte er gesagt und sich die Mütze in den speckigen Nacken geschoben, offensichtlich wenig berührt vom Ableben der Ärztin. »Soweit ich weiß, war sie nicht verheiratet und hatte auch keinen Freund. Interessierte sich nur für ihre Patienten und ihre Arbeit. Angehörige gibt's auch nicht, eigentlich konnte sie einem leid tun. Nur von einer Nichte in Köln hat sie mal gesprochen. Ihre Schwester ist mit ihrem Mann bei einem Unfall vor ein paar Jahren ums Leben gekommen. Ihr Vater ist schon im Krieg gestorben, ihre Mutter ein paar Jahre danach. Bis auf die Leute aus dem Krankenhaus und die Mitglieder von ihrem Resozialisierungsverein hatte sie wohl niemanden.«
Dabei hatte es Fröhlich erst einmal bewenden lassen. Bevor weitere Befragungen stattfanden, wollte er die Ergebnisse der Spurensicherung und der Obduktion abwarten.
Der Obduktionsbericht lag schon zehn Stunden nach Auffinden der Leiche vor. Dr. Sperlings Team in der Pathologie hatte blitzschnell gearbeitet und die Dienstzeitregelungen ignoriert. Wie Fröhlich vermutet hatte, war die Todesursache Vergiftung.
Das Gift war mit einer Nadel in die Blutbahn des Opfers gebracht worden. Die Wunde lag rechts neben dem Kehlkopf und war nur als winziger Punkt erkennbar, der Einstich wies eine Tiefe von einem Millimeter auf. Als Tatzeit wurde etwa dreiundzwanzig Uhr des Vortages angegeben.
Die ganze Sache war ziemlich rätselhaft und hätte Stoff für einen Kriminalfilm abgeben können. Dr. Morgensterns Büro war von innen verschlossen gewesen, der Schlüssel hatte vor der Toten auf dem Tisch gelegen. Wahrscheinlich hatte sie die Bürotür abgeschlossen, um bei ihrer Arbeit ungestört zu sein. Der Zweitschlüssel wurde in einem Schrank verwahrt, zu dem nur die Stationsschwester Zugang hatte. Diese hatte ihren Dienst um acht Uhr angetreten. Um halb neun war die Tote gefunden worden. Eigentlich wäre das ein klassisches Szenario für Selbstmord gewesen, aber man hatte weder eine Nadel noch eine Spritze, mit der sie sich das Gift hätte injiziert haben können, am Tatort gefunden.
Die Auswertung der Gewebeproben hatte ergeben, daß ein Nervengift aus Pflanzenextrakten verwendet worden war, das von einigen südamerikanischen Indiostämmen zum Präparieren ihrer Jagdpfeile benutzt wurde. Es war ein Nervengift, das - in die Blutbahn gebracht - die Beute lähmte und den Tod durch Atemlähmung hervorrief. Je nach Größe und Gewicht des Beutetieres konnte der Todeskampf wenige Sekunden bis zehn Minuten dauern. Zehn sehr lange Minuten, wie es hieß. Das Gift war in weiten Teilen Südamerikas verbreitet und wurde - nicht nur in ländlichen Gebieten - in sehr starker Verdünnung auch als Abtreibungsmittel eingesetzt. Nur durch einen Zufall war es so schnell identifiziert worden. Einer der Laboranten beschäftigte sich hobbymäßig mit Giften (manche Leute kriegen nie genug, wunderte sich Fröhlich) und hatte vor einiger Zeit ein paar Gramm der gleichen Substanz von einem Bekannten aus Brasilien für Studienzwecke erhalten.
Wir haben also eine Tote ohne nennenswertes Privatleben, faßte der Hauptkommissar zusammmen. Das war gut, denn es schränkte den Kreis der Verdächtigen ein. Andererseits fand man sie mit der Injektion eines südamerikanischen Giftes im Hals in einem von innen verschlossenen Raum. Es gab keine Spuren am Tatort und keine Tatzeugen. Für den Ahnungslosen klang das sehr interessant. Für den Profi klang es nur nach Streß. Fröhlich seufzte angesichts der mühseligen Kleinarbeit, die er auf sich zukommen sah.
Die vorherrschende Farbe in Dr. Frenzels Büro war Weiß. Der Assistent der Ermordeten war bei der Auswahl seines Mobiliars anscheinend nicht nach funktionellen Gesichtspunkten vorgegangen, sondern hatte sich eher von ästhetischen Kriterien leiten lassen. Mehr als ein Stück war Designerware. Fröhlich wußte dies, weil eine Freundin seiner Frau ebenfalls eine Schwäche für die schönen Dinge des Lebens hatte. In ihrer Wohnung hatte er ausgiebig Gelegenheit gehabt, zeitgenössisches Möbeldesign zu studieren. Da die Einrichtung des Büros wahrscheinlich nicht vom Krankenhaus bezahlt worden war (wenn doch, mußte es in dieser Hinsicht gewaltige Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppierungen des Öffentlichen Dienstes geben), fragte er sich, wie Frenzel dies mit dem Einkommen eines Assistenzarztes machte.
Er hatte sich Frenzel als ersten vorgenommen, weil er am engsten mit der Ermordeten zusammengearbeitet hatte und sie deshalb wahrscheinlich am besten kannte.
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