Nur die Gelegenheit hat sich noch nicht ergeben.
»Nur allgemeine Konversation.«
Himmelreich grinst.
»Er ist ziemlich abrupt aufgestanden. Ich hoffe, du hast ihn nicht beleidigt.«
»Bei diesen Asiaten weiß man ja nie. Aber ich glaube, ich habe nur eine seiner Fragen nicht erwartungsgemäß beantwortet. Er wollte wissen, ob Fermi an Waffen gearbeitet hat.«
Die Chance. So schnell hat der andere nicht damit gerechnet. Nun heißt es ruhig bleiben und die Gunst der Stunde nutzen. Er sammelt sich, wie soll man anfangen, und er merkt, daß ihm schwerfällt zu tun, weshalb er eigentlich hier ist.
Aber dann kommen die Worte doch heraus.
»Und? Hat er?«
»Natürlich nicht. Du weißt, was wir getan haben.«
»Aber es gibt diese Gerüchte ...«
Ettore verdreht die Augen in komischer Ungeduld.
»Du meinst die Todesstrahlen.«
»Eben die. Ein Strahl, von Italien aus einer von Fermi gebauten Apparatur abgeschossen, tötet eine Sekunde später in Algerien eine friedlich grasende Kuh.«
»Äthiopien. Ich kenne die Geschichte auch. Wie dem auch sei – es klingt wie ein Witz, und es ist auch einer.«
Er klingt glaubwürdig, wie er das so abstreitet, aber wer kann schon in einen Menschen hineinblicken? Himmelreich weiß, was er weiß.
»Du darfst nicht darüber reden, stimmt´s? Mit der Technologie dieser Strahlen ließe sich eine Menge erreichen, und viel Geld machen. Ich kenne da jemanden, der ...«
Er bricht ab, als er Ettores erstaunten Blick auf sich fühlt. Es ist kein normales Thema für Ettore, merkt er erschreckt. Ich bin unbedacht einen Schritt zu weit gegangen, denkt er, über die Grenzen der Freundschaft hinaus. Verdammt, ich kann das nicht. Warum nehmen sie keinen Experten für so etwas.
Glücklicherweise erlöst ihn einen Augenblick später Paul Hartmann aus der unangenehmen Situation. Er hat den letzten Teil von Himmelreichs Rede noch gehört.
»Die Todesstrahlen? Das wäre was für uns. Das würde uns endlich dahin bringen, wo wir hingehören.«
Hartmann ist angetrunken, ein Zustand, den weder Himmelreich noch Majorana bisher an ihm gesehen haben. Etwas schwankend steht er da, mit wäßrigen, vorquellenden Augen, ein halbleeres Glas in der Hand.
Ettore räuspert sich.
»Wo gehören wir denn hin? Und wer sind wir?«
Hartmann sieht ihn auf schwer zu deutende Weise an, einerseits wohlwollend, andererseits mit leichtem Widerwillen.
»Wir sind die Deutschen, und wir gehören an die Spitze. Und unser Führer Adolf Hitler wird uns dorthin bringen, das können Sie mir glauben. Die Erde wird zittern, und wohl den Völkern, die sich zu unseren Verbündeten zählen dürfen.«
Er redet sich in Rage, wobei er sich der abgehackten Diktion bedient, die die rhetorische Norm dieser Tage darstellt. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn und bilden einen glänzenden Film. Er sieht ungesund aus, wie er da in seinem schlecht sitzenden grauen Anzug steht, ungesund nicht auf eine physische, sondern auf eine moralische Art.
Seine beiden Zuhörer beobachten ihn mit unterschiedlichen Gefühlen. Himmelreich fühlt leichtes Unbehagen. Hartmanns Exkurs hat zwar wenig mit ihm zu tun, aber er ahnt, daß er selber ein Teil dessen ist, was der Mann da eben propagiert, und daß er dazu beiträgt, den Zielen der Nationalsozialisten zu dienen, obwohl er im tiefsten Inneren so unpolitisch ist, wie man es nur sein kann. Und Majorana – nun Majorana sieht das Ganze eher wie ein Zuschauer im Theaterparkett; froh, nicht zu den Protagonisten zu gehören, mit Distanz und Belustigung gegenüber der besonders gelungenen Darstellung eines Narren.
»Gut, daß unsere Führer sich so hervorragend verstehen.«
»Der Duce denkt wie Adolf Hitler, das ist wahr. Aber natürlich ist klar, wer von beiden der überlegenere Geist ist.«
Majorana bemüht sich um eine energische Sprache.
»Natürlich. Sie sind Mitglied der Partei?«
Hartmann knallt die Hacken zusammen; was zackig aussehen soll, wird aufgrund seines Zustandes zu einer schwach parodistischen Einlage.
»Von Anfang an. Wie so viele, die den elenden Zustand unseres Landes vor Augen hatten, habe ich frühzeitig erkannt, daß es nur ein Mittel gibt, uns wieder zu neuer Größe zu führen. Und ich habe etwas dafür getan.«
Er ist völlig verändert, und daran ist sicher nicht nur der Alkohol schuld. Zwar ist er im alltäglichen Leben nicht unbedingt schüchtern, aber zu einem Auftritt wie diesem hätte er sich bis vor ein paar Monaten niemals hinreißen lassen.
Zuhause in Italien hat Ettore Verhaltensweisen wie die Hartmanns oft genug beobachtet in den letzten Jahren, hat sie aber dort der natürlichen Begeisterungsfähigkeit seiner Landsleute zugeschrieben. Es würde interessant sein zu beobachten, bei wie vielen der kühlen Deutschen die Begeisterung ebenso hohe Wogen schlagen wird wie bei Doktor Paul Hartmann. Sicher sind es weniger als im Land Mussolinis.
Er setzt sich etwas von der Gruppe ab, spaziert durch die Halle auf die breite Fensterfront zu. Die Fenster gehen zum Garten hinaus; sie sind hoch, zweiflügelig, und reichen bogenförmig bis fast unter die Decke des Raumes. Sie – wie überhaupt der ganze Raum – erinnern ihn an das Haus seiner Familie in Sizilien.
Er tritt an die Scheiben. Draußen ist es Nacht; über den schwarzen Himmel ziehen dunkelgraue Wolken wie eine niemals endende Karawane formloser, gehetzter Tiere. Der Vollmond leuchtet in intensivem Ocker, und ein heller Hof umgibt ihn wie ein Heiligenschein.
Ettore schaut nachdenklich, ohne eigentlich etwas zu sehen. Er starrt in die dunkle Unendlichkeit, in Gedanken ist er weit fort. Sein Blick ist auf den Garten gerichtet: alte Bäume, hochaufgerichtet wie Schiffsmasten, dazwischen alle Arten von Büschen, ein finsteres Dickicht, wie es im tiefsten Wald kaum dichter sein kann. All das nimmt er nur verschwommen wahr, wie durch eine dicke, viel zu starke Brille.
Da auf einmal macht sich sein Blick an etwas fest, an einer Unregelmäßigkeit; etwas ist dort draußen, das nicht dorthin gehört. Mit einem Schaudern, das er sich nicht erklären kann, bemerkt er, daß es ein Mensch ist, der dort steht und in die hell erleuchteten Fenster hinein blickt.
Es ist ein alter Mann, in einem abgetragenen, braunen Anzug. Klein und verkrümmt steht er dort, völlig bewegungslos, und starrt in Richtung des Hauses. Im hellen Mondlicht kann Ettore jede Einzelheit des Gesichtes ausmachen. Es ist braun und von Wind und Wetter gegerbt wie Leder, ein fadendünner Schnurrbart zieht einen feinen Strich unter die riesige, gekrümmte Hakennase. Der Mann wirkt arabisch, maurisch, wie ein Nomade der Wüste oder wie ein Zigeuner: Er ist Sinnbild dessen, der sich nie lange an einem Ort aufhält, immer in Bewegung ist, weil nur in der Bewegung seine Sicherheit liegt.
Plötzlich weiß Ettore, daß der Mann dort draußen nur wegen ihm gekommen ist. Er sieht nur ihn an, nicht das Haus oder irgend etwas anderes, sondern nur ihn, Ettore Majorana. Und er hat eine Mission, die ihn betrifft.
So stehen sie eine kleine Weile, und Majoranas Schaudern weicht einem Gefühl tiefen Friedens. Keine Bedrohung geht von dem Braunen aus. Sie fixieren sich, als gäbe es nur sie beide auf der Welt, und der Sizilianer hat Angst, sich zu rühren, wagt kaum zu atmen, weil dann der Mann verschwinden könnte wie eine Fata Morgana oder wie ein Reh, das sich erschreckt.
Langsam, ganz langsam verzieht sich das Gesicht des Alten zu einem Lächeln, entblößt zwei Reihen riesiger, tierhafter Zähne, die stark und weiß aus dem dunklen Gesicht leuchten. Dann nickt er, einmal, zweimal, wie um sich selbst etwas zu bestätigen.
Ettore geht durch den Garten, langsam, aber ohne Furcht – er weiß, von diesem Mann droht ihm keine Gefahr. Dann erhebt der Alte seine Stimme, und sie ist so rauh und heiser, daß Ettore unwillkürlich die Vision von Tausenden von Zigaretten und ebenso vielen Schnapsgläsern befällt:
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