Gaston schrieb es auf und hielt Yves den Zettel hin.
Henri Quatre.
Wieder nickte er.
»Was waren die letzten Worte Jeanne d’Arcs?«
Für Gott und den König, schrieb er.
Diesmal gab es eine Ohrfeige.
Die Jahre gingen ins Land. Gaston wurde älter und glich seinem Vater immer mehr, nur an Größe übertraf er ihn bald. Yves spürte sein Alter, die vielen Pernods, die Gauloises. Nicht alle Verdrehungen gelangen ihm noch schmerzlos. Einmal stürzte er und brach sich das Schlüsselbein sowie ein paar Rippen. In dieser Zeit schlossen sie sich dem Cirque Ancienne an, einem kleinen, schäbigen Wanderzirkus, in dem nur alte Artisten auftraten. Den meisten fehlten ein paar Zähne, manchen alle. Der Feuerschlucker spuckte manchmal Blut, die Jongleure fingen nicht mehr jede Keule, die Clowns brachten das Publikum kaum noch zum Lachen. Am schlimmsten war der Löwe, der in den Vorstellungen einschlief. Die Alten versuchten sich zu helfen. Alle traten sie in Clownkostümen auf, um ihre Fauxpas gewollt wirken zu lassen. Doch trotz dieses »genialen« Einfalls des Direktors war der Zirkus nie mehr als halb voll. Was sich von den Artisten nicht sagen ließ.
Yves war deutlich jünger als die anderen, aber der »Knochenlose« spürte seine gebrochenen Knochen so sehr, dass er nicht auftreten konnte. Gaston musste für ihr Einkommen sorgen. Er riss Billets ab, mistete den Löwenkäfig aus, machte den Ausrufer oder Claqueur, hing Plakate auf, ging überall zur Hand, wo man ihn brauchte. Und die alten Künstler brauchten ihn. Manche konnten sich nicht mehr die Schuhe binden, anderen zündete er den Ofen oder die Zigarette in ihren zittrigen Händen an oder wusch ihnen den Rücken.
»Ah, was für eine Wohltat, mein Kleiner«, schwärmten sie und gaben ihm noch einen Sou. Trotzdem hatte er am Abend oft nicht mehr als ein paar Münzen. Es reichte kaum fürs Essen, denn das halbe Geld ging für Yves’ Gros rouge drauf, Pernod war inzwischen zu teuer geworden.
Als sie eines Abends gar nichts zu essen hatten, wankte Yves zum Direktor und trug ihm sein Leid vor.
»Eh bien, Chevalier, meinst du, du bist der einzige Hungerleider hier? Wenn du weniger trinkst, könnt ihr morgen was essen. Wenn es dir nicht passt, ich halte euch nicht zurück. Und einen Gaston habe ich in zwei Minuten, ohne besoffenen Vater.«
Das war zu viel für Yves. Das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Nach der Rangelei mit dem Direktor drohte der ihm, die Polizei zu rufen.
Schon ein wenig nüchterner stapfte Yves davon und warf alle Flaschen aus dem Wagen. Gemeinsam mit Gaston spannte er das Pferd an, und sie fuhren noch in der gleichen Nacht los. Ihr Lager stellten sie neben einem Bächlein auf und aßen, was Yves aus dem Wagen des Direktors hatte mitgehen lassen. Sie schliefen wunderbar. Am nächsten Morgen badeten sie im kalten Wasser des Bachs. Danach ließ Yves Gaston alles blitzblank schrubben und begann mit schmerzverzerrtem Gesicht seine alten Nummern zu üben.
Am Abend kam Nebel auf, sie nutzten die Gelegenheit und schlichen im Schutz der Dämmerung zu einem nahe gelegenen Bauernhof. Als sie die Anhöhe erreicht hatten, von der aus sie den Hof überblicken konnten, legte Yves einen Finger auf seine Lippen, Gaston nickte. Sie duckten sich und huschten zu einem Bienenhäuschen am Waldrand. Yves suchte nach einem losen Brett und hob es an.
»Eh bien.«
Er fand das Zeichen, nach dem er gesucht hatte, eingeritzt. Und noch ein anderes. Zufrieden nickte er.
»Kein Hund«, flüsterte er und lächelte.
Weil der Zinken, der anzeigte, dass kein Hund den Hof bewachte, nicht frisch war, zog er zur Sicherheit eine kleine Hundepfeife aus der Tasche und blies hinein. Doch auch jetzt tat sich nichts. Gaston schüttelte den Kopf und tippte sich ans Ohr.
»Nur Hunde hören diese Pfeife«, erklärte Yves.
Sie warteten, bis es vollends dunkel wurde, und beobachteten weiter den Hof. Einmal kam der Bauer aus dem Stall, spuckte aus und fluchte, dann verschwand er im Haus. Drinnen hörten sie ihn weiterfluchen und als Antwort die zänkische Stimme einer Frau. Sie krochen zum Hühnerstall. Das Schloss war schnell aufgebrochen. Yves packte zwei Hühner und drehte ihnen flink den Hals um. Dann nahm er vier Eier, stach Löcher hinein, zwei trank er selber, die anderen reichte er Gaston.
»Trink, das gibt Kraft.«
Zurück beim Wagen, rupfte Yves die Hühner und nahm sie aus, Gaston machte das Feuer, über dem sie ihre Beute brieten.
Der abendliche Nebel hatte sich aufgelöst, nach ihrem Festmahl saßen sie noch lange am Feuer und sahen stumm in den Himmel, aus dem es Sternschnuppen regnete.
»Du darfst dir etwas wünschen«, sagte Yves nach einer Weile, »aber du darfst niemandem sagen, was, sonst geht es nicht in Erfüllung.«
Gaston sagte und wünschte sich nichts.
Das andere Geheimzeichen, das Yves gesehen hatte, war ein Kreuz. Die Bauern waren also fromm. Oder zumindest taten sie so, außer wenn sie dachten, es sei niemand in der Nähe. Yves rieb sich die Hände. Gut, gut. Hier war noch mehr zu holen. In ihrer Requisitenkiste lag eine schwarze Soutane, er brauchte nur noch eine passende Geschichte. Ihm würde schon eine einfallen.
Am nächsten Tag stand er in der Soutane auf dem Hof. Gaston mimte den Geistesschwachen. Noch bevor der Geistliche an die Haustür klopfen konnte, kam der Bauer aus dem Stall. Gaston, der Bär, fletschte die Zähne, rollte die Augen und brüllte ihn an. Der Bauer wich zurück.
»Ho, ho, Patrice, sei still«, zischte Yves. Gaston brummte und starrte zu Boden.
»Bonjour, guter Mann, entschuldigt meinen Zögling. Wir sind auf dem Weg in die Salpêtrière. In unserem kleinen Asyl kommen wir mit dieser bemitleidenswerten Kreatur nicht mehr zugange. Vielleicht können die Pariser Professoren für einmal helfen.«
Er hob die Hände zum Himmel, dann schlug er das Kreuz.
»Gönnt ihr einem Anstaltspfarrer und diesem Imbezilen ein Stück Brot und ein Glas Wein? Gott wird’s euch vergelten, aber lasst mich zuerst Haus und Hof segnen.«
Yves führte Gaston zu einem Baum.
»Du bleibst hier, verstanden«, sagte er streng.
»Wenn du brav bist, bekommst du ein Stück Brot … mit Käse.«
Yves flüsterte dem Bauern zu.
»Käse beruhigt ihn, Gott weiß, warum.«
Der Bauer nickte ängstlich.
Beim Wort Käse entfuhren Gastons Kehle drei spitze Schreie.
Yves ging dem Bauern voran zur Stalltür, dort zog er eine Flasche und ein kleines Becken unter der Soutane hervor.
»Da ich keinen Sprengwedel zur Hand habe, werdet ihr mir zur Not bestimmt ein Zweiglein leihen, um die Tiere zu weihen.«
Er öffnete die Flasche und spritzte ein wenig Wasser auf die Tür, dazu murmelte er:
»Ergo tamen amor genitus emnestus.«
Der Bauer kratzte sich am Kopf und schaute sich um. Unter dem Baum stand der Junge, der ihn nicht aus den Augen ließ. Er machte einen großen Bogen um ihn und ging ins Haus, um einen geweihten Palmzweig zu holen. Zur Frau sagte er:
»Hol dem Pfaffen und seinem Affen Brot und Käse und mach eine Flasche Wein auf. Und gib ihnen vom Schinken und einen Laib Brot und eine Flasche mit auf den Weg.«
Sofort zeterte sie los.
»Wieder einer dieser Bettelpriester. Schon der dritte diese Woche. Bist du sicher, dass er diesmal echt ist?«
Der Bauer zuckte mit den Schultern.
»Der kann Latein.«
Er öffnete das Fenster.
»Hör selbst.«
Die Bäuerin trat ans Fenster und horchte. Als Yves sie sah, nickte er ihr zu und sprach lauter:
»Hirundo maleficis evoltat.«
Die Bäuerin lächelte ihm zu und winkte. Auch Yves lächelte und winkte.
»Siehst du«, meinte der Bauer.
»Hm«, murmelte sie.
Sie schloss das Fenster. Irgendwo hatte sie diesen Priester schon gesehen. Auch der Junge kam ihr bekannt vor.
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