Den Kopf ans Polster gelehnt, blickte er in den blauen Himmel, an dem Schönwetterwolken wie Wattebäuschchen hingen, sich auflösten und neu bildeten.
Als erfahrener Arzt durchschaute ich leicht, dass er meinte, eine innere Festigkeit zeigen zu müssen, die er im Grunde nicht besaß. Vor allem seine Hände verrieten mir dies. Andauernd versuchte er, während er sprach, sie zu bändigen: Mal faltete er sie im Schoß, mal strichen sie wie polierend über die Sessellehnen, mal verschränkte er sie unter den Achseln, dann rieb er sie aneinander oder über die Oberschenkel, und dieser Zyklus wiederholte sich während dieser Stunde. Ich setzte an, meine Routinefragen zu stellen, da kam er mir zuvor.
„Ich habe von Ihnen gehört, schon vor ein paar Jahren. Sie helfen, Konflikte zu lösen. Das brauche ich jetzt. Ich bin nicht verrückt, was Sie womöglich im ersten Moment gedacht haben. Auch nicht neurotisch. Nein. Sinnkrise könnte man es eher nennen. Und dafür sind Sie doch der richtige Mann, nicht wahr?“
„Ja, das ist mein Spezialgebiet. Aber wollen Sie nicht “ Er unterbrach mich. Anstatt sich mir vorzustellen und seinen Namen zu nennen, sagte er: „Auch ich übte einmal meinen Job in höherer Etage aus. 23. Stockwerk ist das hier ich saß, wenn ich nicht unterwegs war, im 29., über mir nur noch eine Etage. 23, 29 beides Primzahlen und die Quersummen ebenfalls.“ Er stieß einen heiseren Lacher aus. Wenn er einmal eine Spitzenstellung innehatte, dachte ich, dann ist er ziemlich tief gefallen. Und sogleich durchfuhr mich der Gedanke: Womöglich ist er schizophren: Eine Krankheit, die in Schüben verläuft, und jeder neue Schub ließ ihn sozial absteigen, seine Persönlichkeit verfallen. Und diese Gedankenflucht zu den Primzahlen ein Fall für die Psychiatrie. Behutsam würde ich ihn loswerden, nahm ich mir vor. Manchmal sind solche Leute unberechenbar.
„Ich errate Ihre Gedanken“, ergriff er wieder das Wort.
„Ich bin wirklich nicht verrückt. Ich bin abgestürzt, unverschuldet. Ich werde es Ihnen erzählen. Das brauchen Sie doch, die Anamnese, wie das heißt, um zur Diagnose und schließlich zur adäquaten Therapie zu gelangen.“ Ich nickte stumm, schaute verstohlen auf die Uhr. Na gut, eine Stunde gebe ich ihm. Soll er nur rasch zur Sache kommen! Seine sonderbare Erscheinung grenzte ans Widerliche, stand jedoch in augenfälligem Gegensatz zu seiner klaren, deutlichen Sprache, seinen rastlosen Händen, die mit schwerer Arbeit offenbar noch nie in Berührung gekommen waren, und einem Gesicht, das so gar nicht zur chronischen Trunksucht eines Clochards passte. Dies erregte meine Neugier.
„Es ging mir einmal so gut wie Ihnen“, fuhr er fort, „in finanzieller Hinsicht, meine ich. Oder täusche ich mich? Zumindest werden Sie auf nichts verzichten müssen, nicht wahr?“
Wenn er damit eine Frage an mich gerichtet hatte, so musste ich ihn jetzt enttäuschen, denn ich antwortete nicht darauf. Was hatten meine Patienten meine finanziellen Verhältnisse zu interessieren? Gab er vor, eine Krise bewältigen zu wollen, und spionierte er mich in Wirklichkeit aus? Ja, ich besitze ein großes Haus auf großem Grund mit reichlich Abstand zu den Nachbarn in ruhiger, bester Lage, ausgestattet mit Schwimmbad, Sauna und Fitnessraum, wovon ich fast täglich Gebrauch mache. Der Sorgenfreiheit im Alter dient ein breit gefächertes Portfolio. Aber all das ging ihn nichts an, und daher vermied ich zu antworten oder gar zu nicken. Er wartete auch nicht ab, hielt es wohl selbst für eine rhetorische Frage und sagte: „Ich habe Internationale Volkswirtschaftslehre studiert, Schwerpunkt Finanzwirtschaft, für Banken gearbeitet als Broker, mich früh als Trader selbständig gemacht. Mein Selbstbewusstsein war unverwüstlich. In den oberen Etagen der Großunternehmer bewegte ich mich trittsicher. Aus einem nicht unbeträchtlichen Erbe machte ich ein paar Millionen. Finanzjongleur werden Sie meinen und dabei nicht Unrecht haben. Handel mit Aktien, mit Puts und Calls, Arbitragehandel, auch hochriskante Short Straddles, na ja, die ganze Optionsstrategie rauf und runter, und logisch mit Immobilien und dabei auf Schnäppchen geachtet, aber nie überzogen, keine krummen Sachen wie ein Nick Leeson. Sie haben sicher von diesem irrsinnigen Spekulanten gehört, der in den Neunzigern eine weltweite Devisenkrise auslöste und die Barings Bank zu Fall brachte. Oder wie ein Jérôme Kerviel, der vor nicht allzu langer Zeit der Société Générale fast 5 Milliarden Euro Verlust einfuhr. Nein, ich habe mein Vermögen im Auge behalten. Verluste wurden rasch durch Gewinne wieder ausgeglichen, so dass die Bilanz letztlich positiv war und das Kapital wuchs über längere Zeit. Ich nehme an, Ihnen geht es im Grunde nicht anders. Wir wollen alle das Beste aus unseren Einkünften machen und uns am Luxus erfreuen, nicht wahr?“
Das hätte ich ihm bestätigen können mit meinen kostbaren Anschaffungen ich dachte an meine Uhrensammlung, an die Originale an den Wänden, die antiken Möbel, Blickfang in den Räumen meines Hauses. Aber ich reagierte wieder nicht. Mein Konzept hatte er bereits durchkreuzt, mein professioneller Einstieg war mir verwehrt, die Situation wurde von ihm beherrscht. Er fuhr fort:
„Eine Villa am Hang, oberhalb des Sees, mit weitem Blick über die bewaldeten Hügel das war sozusagen der Stammsitz. Ein Chalet an der Côte d‘Azur in der Nähe von St. Maxime, teils massiv, teils mit wunderschöner Holzverkleidung. Innen rustikale und trotzdem durchaus bequeme Möbel. Wir nutzten es oft für Festlichkeiten. Freunde und Bekannte kamen gerne dorthin, mehrmals im Jahr, und ein Apartment in der Nähe des Central Parks und eine Wohnung an den Champs-Élysées. Ich flog First Class. Wenn ich geschäftlich unterwegs war und oft mehrere Wochen in New York oder Paris verbringen musste, schätzte ich es, mich in den eigenen vier Wänden aufhalten zu können. Selbstverständlich war das nicht alles voll bezahlt. Das macht man nicht. Abschreibungsobjekte, Sie verstehen? Das Geld musste arbeiten. Und einen Ferrari Scagletti gönnte ich mir, solch ein Spielzeug haben Sie doch wohl auch! Muss ja nicht Ferrari sein, Porsche Carrera, SL 500 tut‘s auch. Macht Spaß, damit zu fahren, nicht wahr?“
Wollte er mich provozieren? Mir irgendwelche Informationen entlocken? Mich ausbaldowern? Könnte es sein, dass er mit einer Gang zusammenarbeitete, die sich durch Einbruch meine Wertgegenstände verschaffen wollte? Da hätten sie geringe Chancen. Mein Haus ist mit modernster Warnanlage gesichert, mit direktem Draht zur Polizei, wie bei Banken. Das ging mir plötzlich durch den Kopf. Deshalb versagte ich mir weiterhin jegliche Andeutung von Zustimmung oder Ablehnung. Er brauchte nicht zu wissen, dass mein SL in der Tiefgarage stand, dass ich zwar nicht so viele Domizile wie er erworben hatte, aber ein Landhaus in der Toskana, wohin auch wir hin und wieder Gäste einluden. Und mehrere Millionen würde ich mit meiner Arbeit wohl kaum schaffen. Darüber zu reden, war jetzt weder der Zeitpunkt, noch er der geeignete Gesprächspartner.
„Es ist der Spaß des Spielers, und zu ihnen zählte ich mich. Glauben Sie nicht, dass ich der Spielsucht verfallen bin! Nein, ich konnte jederzeit aufhören. Eine gesunde Scheu, alles auf eine Karte zu setzen, bewahrte mich davor. Und doch reizt es mich, noch heute, mein Glück zu versuchen. Ach, es hat nichts mit Glück zu tun. Das wissen Sie. Es ist eine Wette, die man gewinnt oder verliert. Und hin und wieder bin ich darauf eingestiegen. Unter uns Jugendlichen wurde bei jeder Gelegenheit gewettet, auch gern mal ein Los gekauft. Später habe ich des Öfteren an einem Glücksspiel teilgenommen, natürlich Lotto gespielt und in den Städten, in die ich kam, die Casinos aufgesucht. Von St. Maxime aus regelmäßig einen Abstecher nach Monte Carlo gemacht. Allerdings nie gepokert. Im Grunde hatte ich es nicht nötig. Ich spielte, wenn es sich ergab. Ich bin eben nicht süchtig, vielleicht eher neugierig die Experimentierfreude eines Jungen steckt in mir. Geld erwarb ich auf andere Weise und in größerem Stil, nicht durch schier unmögliche Zufälle. An der Börse zählen Wissen und ein Gespür für Entwicklungen, Treffsicherheit in der Vorausschau und natürlich Risikobereitschaft wie im Spiel.“
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