Er zögerte kurz und faltete die Hände hinter dem Kopf.
Momentan hatte ich den Eindruck, er hindere sich selbst am Fortgang seiner Geschichte und unterdrücke Emotionen, indem er sich in unwesentliche Details verlor. Dann aber sprach er mit einem Mal ganz bedächtig, Wort für Wort, weiter, und es schien mir, als beherrschte er sich mit größter Mühe.
„Es war der 25. Juli 2000 und in New York 9 Uhr, als der Sender sein Programm unterbrach und grauenhafte Bilder zeigte. Flug AF4590, sein Flug die Concorde war abgestürzt, alle Insassen verbrannt.“
Ich war wohl aufgesprungen, fand mich plötzlich mit dem Rücken zum Fenster vor ihm stehen und ihn anstarren. Er schaute durch mich hindurch, reglos.
„Setzen Sie sich ruhig wieder!“ hörte ich ihn sagen und wurde mir da erst meiner für einen Therapeuten unangemessenen Reaktion bewusst. In der Pause, die jetzt entstand, überlegte ich wie gehetzt, was ich ihm sagen, was ich ihn fragen, wie ich mit dieser unvermuteten Mitteilung umgehen sollte. In meinem bisherigen Therapeuten-Dasein war es noch nicht vorgekommen, dass ein Patient solch einen Schicksalsschlag erlitten hatte und dies noch scheinbar sachlich vorbrachte. Er wartete das Ergebnis meiner wirren Überlegungen nicht ab und sprach weiter.
„Ich bin nicht gekommen, weil ich mit dem Entsetzen, dem unfassbaren, unbegreifbaren Schlag, der mich traf, noch immer nicht fertig geworden sei. Man wird es nie, das sage ich Ihnen, nie verstehen, warum man auf einmal auf den geliebten Menschen verzichten muss. Das kann kein Therapeut auslöschen. Das sind Wunden, die auch vernarbt lebenslänglich schmerzen.“
Ich hatte mich wieder im Griff. Wenn er keine Hilfe benötigt, seine Trauer zu überwinden, was dann? fragte ich mich und schaute verdeckt auf meine Uhr. Er musste es bemerkt haben und sagte:
„Sie haben noch Patienten. Ich werde gehen. Aber ich bitte Sie, gewähren Sie mir Ihre Mittagsstunde, am besten jeden Tag, bis Sie meine Geschichte kennen, um mir dann zu helfen. Das können nur Sie.“ Er hatte sich im Sessel aufgerichtet und sah mich an, nicht anflehend, nicht verzweifelt, sondern durchdringend und entschieden, als gäbe er mir einen Befehl. „Und das Honorar ist Ihnen sicher“, fügte er hinzu. Dann stand er auf, steckte beide Hände in die Manteltaschen und wandte sich zur Tür.
Er will mir nicht die Hand geben, dachte ich. Für ihn ist die Aussprache noch nicht beendet. „Wie heißen Sie?“, fragte ich.
„Felix. Nennen Sie mich Felix!“ Und bevor ich noch
etwas einwenden konnte, hatte er die Tür zur Praxis hinter sich geschlossen.
„Wer war das denn!?“ stürzte Frau Seidel herein. Noch reglos hielt ich nach diesem Abgang die Türklinke in der Hand. „Ein Alptraum“, antwortete ich.
„Na, der hat vielleicht eine Duftmarke! Ich muss sofort lüften. Gleich kommt Frau - .“ Und sie nannte den Namen der nächsten Patientin.
„Ja, lüften Sie!“ Ich trat an den Schrank und trank ein Glas Wasser.
Felix war nicht nur unverhofft in meiner Praxis aufgetaucht, mir war, als hielte er seinen Fuß zwischen die Tür, selbst nachdem er gegangen war. Er war mir fortan gegenwärtig wie ein Ohrwurm, wie ein Bild. Er drängte sich zwischen meine Gedanken mit seiner nüchternen, unaufgeregten akzentlosen Sprache, zu der die fieberhafte Aktivität seiner Hände so gar nicht passte. Ich sah ihn vor mir, noch auf der Heimfahrt, wo ich doch normalerweise mit dem Abschließen meiner Praxisräume die Akten meiner Patienten schließe. Denn meine Profession beschränkt sich auf diesen Ort, und zu Hause spreche ich nie über das, was meine Patienten mir erzählen. Was in aller Welt hatte ihn zu mir geführt? Es fiel mir beängstigend schwer, nicht ins Grübeln zu verfallen. Dieser Schlag, den Sohn zu verlieren! Hatte das seinen finanziellen Absturz bewirkt? Offenbar hatte er den Tod des Sohnes irgendwie verarbeitet und war nicht aus diesem Grund zu mir gekommen. Und es verunsicherte mich, dass ich in dieser Sitzung nicht die Fäden in der Hand gehalten hatte, was auch dazu beitrug, dass Felix‘ Erscheinen wie ein ungelöstes Problem den ganzen Abend auf mir lastete.
Wir saßen am Tisch und aßen zu Abend. Mirko fehlte.
„Wo ist Mirko?“ Stefanie zuckte die Achseln.
„Wo ist Mirko?“ Ich hob Vanessas linken Kopfhörer hoch, damit sie meine Frage hörte.
„Irgendwo!“ sagte sie unwirsch und schob sich den
Stöpsel wieder passend zurecht.
„Hat er dir nicht gesagt, was er macht und wann er zurück sein würde?“
„Nein“, sagte Stefanie. „Er wird mit Klaus und den anderen Jungen zusammen sein.“
„Mit dem Moped!“
„Möglich. Was hast Du? Du bist doch sonst nicht dagegen. Um neun wird er zu Hause sein, wie immer.“
Stefanie brachte das so überzeugt, dass ich mir eingestehen musste, etwas ungehalten gewesen zu sein. In der Tat kam es nicht selten vor, dass Mirko zum Abendessen nicht erschien und oft schon mit seinen Freunden irgendwo etwas gegessen hatte. Dennoch sagte ich: „Findest du nicht, wir sollten abends alle zusammensitzen. Wir sehen uns den ganzen Tag nicht. Vielleicht gibt es etwas, was wir miteinander bereden sollten.“
Vanessa hörte nichts, wippte mit dem Oberkörper zum Takt ihrer Musik und schaute uns abwechselnd an, als redeten wir in einer fremden Sprache.
„Wir sprechen doch miteinander“, entgegnete Stefanie,
„und was die Kinder zu sagen haben, besprechen sie mit mir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dich das wahnsinnig interessieren würde.“
„Bist du dir da sicher?“
„Jedenfalls war es bisher nie anders, und du hast es auch nicht vermisst, dass ich dich mit dem Kram unserer Kinder nicht behelligt habe.“
Innerlich musste ich ihr Recht geben. Trotzdem störte es mich auf einmal, dass mein Sohn nicht mit am Tisch und meine Tochter mir mit Kopfhörern auf den Ohren gegenüber saß. Und für einen kurzen Moment schob sich das irritierende Bild von Felix vor meine Augen, gefolgt von einem zweiten, der brennenden Concorde, wie das Fernsehen es seinerzeit gezeigt hatte.
„Findest du nicht, er sollte mehr für die Schule tun?“, wechselte ich das Thema. „So wie er sich einsetzt, wird er wohl kaum das Abitur schaffen. Und wenn doch, was
fängt er mit einem gerade so eben bestandenen Abitur an?“
„Es muss nicht jeder studieren“, sagte meine Frau. „Mirko ist handwerklich geschickt. Soll er eine Lehre machen. Darauf aufbauen kann er immer noch. Was machst du dir Sorgen!?“
„Ist das so abwegig?“, fragte ich gereizt. „Kann es sein, dass sich unser Sohn auf den Lorbeeren, die sein Vater verdient hat, ausruhen möchte? Ich finde, er sollte mehr lernen und sich weniger herumtreiben. Und das werde ich ihm auch so sagen -, wenn er sich mal wieder hier blicken lässt.“
Stefanie sah mich erschrocken an. „Diese Entschiedenheit kenne ich ja gar nicht an dir! Glaubst du wirklich, du solltest Mirko zwingen, sich bis spät abends mit
Sprachen, Geschichte und Mathe zu beschäftigen? Er hat seinen eigenen Rhythmus. Das solltest du respektieren. Daher rate ich dir: Lass ihn laufen und seinen Weg selbst finden!“
„Nein! Dieses Laissez-faire muss ein Ende haben!“, sagte ich mit gebändigter Heftigkeit. Ich spürte, wie ich ärgerlich wurde - ganz und gar ungewohnt, denn Unbeherrschtheit kannte selbst ich nicht an mir. Ich stand neben mir, sah, wie ich mich über den Tisch beugte und Vanessa die Kopfhörer herunterriss, und hörte mich sagen: „So geht das nicht weiter! Wo sind wir hier? Ist das noch eine Familie? Wo ist Mirko? Ich will, dass er sofort herkommt.“
Stefanie war aufgesprungen. Vanessa hatte den Raum verlassen. Ich hielt mich an der Tischkante fest.
„Geht es dir nicht gut?“ Stefanie legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Hattest du einen anstrengenden Tag? So hast du dich noch nie gebärdet. Was ist los?“ Sie nahm mich in die Arme. Und vor Augen hatte ich wieder Felix und die brennende Concorde.
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