Hans Peter Treichler |
Die Tyrannei des Geldes Henri-Frédéric Amiel über Besitz und Bürgertum |
HANS PETER TREICHLER
Die Tyrannei des Geldes
Henri-Frédéric Amiel über Besitz und Bürgertum
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1. Auflage 2012
© Conzett Verlag by Sunflower Foundation, Zürich
Satz und Gestaltung: Vreni Stoob, St. Gallen
Bildbearbeitung: Meithal AG, Zürich
ISBN 978-3-03760-011-5
Weitere Informationen finden Sie unter
www.conzettverlag.chund www.sunflower.ch
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
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Inhalt
Vorwort Vorwort Genf im 19. Jahrhundert: Täglich schreibt der Philosoph Henri-Frédéric Amiel seine Eindrücke nieder und hinterlässt 16’900 Seiten gelebtes Leben. Ein Journal intime mit verblüffenden Gedanken und Ideen. Denn Amiel trifft 150 Jahre vorweg den Kern der Finanz- und Gesellschaftskrise des angehenden 21. Jahrhunderts. «Die bürgerliche Gesellschaft», mahnt Amiel im Tagebuch, «die sich auf das Geld gründet, geht durch das Geld unter, wenn das Symbol die Sache selbst ersetzt.» Das schreibt Amiel 1851. Es ist die Zeit der grossen Romane von Victor Hugo und Honoré de Balzac. In Paris. Auch im kleinen Genf sitzt einer, der sich Gedanken macht. Gedanken, die heute so aktuell sind wie damals. Was spricht Amiel hier an? Wer das Geld mit der Sache selbst verwechselt, erkennt die Beziehungen hinter dem Geld nicht. Alles wird materialisiert. Doch wenn wir auch die menschlichen Beziehungen materialisieren, geht die herkömmliche Gesellschaft unter. Wie ungeheuerlich wirkt seine Prophezeiung erst für eine Zeit, in der wir das Symbol, die Banknote, die Münze nicht mehr anfassen können? Eine neue Gesellschaftsform bahnt sich an. Gerne verfolgen wir Amiels Gedanken zu Geld, aber auch zu Liebe und Mitgift, zum Bürgertum, zum Genf seiner Zeit. Jürg Conzett
KAPITEL 1 Ein Leben im Rückwärtsgehen
KAPITEL 2 Genf – die magischen Jahre
KAPITEL 3 Der Literat und das Geld oder La tyrannie de l’écu
KAPITEL 4 Liebe und Mitgift
KAPITEL 5 Standesgemäss leben
KAPITEL 6 Les reflets de l’or: Psychologie des Geldes
KAPITEL 7 Der Schweizer Franken: Patenkind des Elysées
KAPITEL 8 Das Geld und die Zeit
KAPITEL 9 Banken und Börsen
KAPITEL 10 Gefahr des Versteinerns: das Bürgertum
EPILOG Ein Liebhaber des Halbschattens
Anhang
Bibliografie
Bildnachweise
Textnachweise
Jahr für Jahr – Zeittabelle
Register
Genf im 19. Jahrhundert: Täglich schreibt der Philosoph Henri-Frédéric Amiel seine Eindrücke nieder und hinterlässt 16’900 Seiten gelebtes Leben. Ein Journal intime mit verblüffenden Gedanken und Ideen. Denn Amiel trifft 150 Jahre vorweg den Kern der Finanz- und Gesellschaftskrise des angehenden 21. Jahrhunderts.
«Die bürgerliche Gesellschaft», mahnt Amiel im Tagebuch, «die sich auf das Geld gründet, geht durch das Geld unter, wenn das Symbol die Sache selbst ersetzt.»
Das schreibt Amiel 1851. Es ist die Zeit der grossen Romane von Victor Hugo und Honoré de Balzac. In Paris. Auch im kleinen Genf sitzt einer, der sich Gedanken macht. Gedanken, die heute so aktuell sind wie damals.
Was spricht Amiel hier an? Wer das Geld mit der Sache selbst verwechselt, erkennt die Beziehungen hinter dem Geld nicht. Alles wird materialisiert. Doch wenn wir auch die menschlichen Beziehungen materialisieren, geht die herkömmliche Gesellschaft unter. Wie ungeheuerlich wirkt seine Prophezeiung erst für eine Zeit, in der wir das Symbol, die Banknote, die Münze nicht mehr anfassen können? Eine neue Gesellschaftsform bahnt sich an.
Gerne verfolgen wir Amiels Gedanken zu Geld, aber auch zu Liebe und Mitgift, zum Bürgertum, zum Genf seiner Zeit.
Jürg Conzett
Henri-Frédéric Amiel in seinen ersten Jahren als Dozent an der Académie (Porträt von 1852). Viele Bekannte merkten seine Ähnlichkeit mit dem Freiheitshelden Garibaldi an. Der Poet und Philosoph Amiel ist aber alles andere als ein Kämpfer. Zurückgezogen lebend, führt er während Jahrzehnten ein Tagebuch voller tiefsinniger Einsichten über das Wesen des Menschen und der Gesellschaft.
Ein Leben im Rückwärtsgehen
Combien un peu d’or de plus ou de moins change la vie!
Cela révolte la fierté de l’âme. La tyrannie de l’écu est avilissante.
Il est ignoble de poursuivre la fortune; il est irritant
de dépendre de Mammon.
Ein paar Goldstücke mehr oder weniger – wie sehr verändern sie doch das Leben! Das empört die Seele in ihrem Stolz. Die Tyrannei des Geldes ist erniedrigend. Es ist würdelos, dem Reichtum nachzujagen; es ist irritierend, vom Mammon abhängig zu sein.
Der Mann, der diese Sätze festhielt, brauchte nicht würdelos dem Geld nachzujagen. Henri-Frédéric Amiel (1821–1881) stammte aus einer gutsituierten Genfer Kaufmannsfamilie, erhielt schon mit 28 eine Professur für Ästhetik an der Genfer Académie und wurde in seinen Kreisen als geistreicher, liebenswürdiger Causeur geschätzt. Frauen liebten seinen sanften, ein wenig melancholischen Blick und seine einfühlende Art; er galt für manche Genfer Familien als begehrter Junggeselle. Zwar trug ihm die Stellung als Dozent nur ein bescheidenes Gehalt ein, aber Amiels Eltern hatten ihren Kindern ein ansehnliches Vermögen hinterlassen. Sowohl Vater wie Mutter verstarben früh; die Familie eines Onkels hatte den 13-jährigen Henri-Frédéric und die beiden Schwestern aufgenommen und ihnen eine «standesgemässe» Erziehung ermöglicht. Für Amiel bedeutete das: Ausbildung an der Académie, daran anschliessend lange Studienjahre im Ausland, vor allem in Berlin, Abschluss in Philosophie und Geistesgeschichte, die Berufung nach Genf.
Trotzdem fand sich Amiel im mittleren Lebensalter in einer unbequemen Zwischenstellung. Zur aristokratisch getönten Genfer Oberschicht der Gelehrten und Bankiers mit Namen wie Pictet, Dufour und de Saussure, die er als «gutes altes Felsgestein» achtete, hielt er Abstand. Noch weniger behagten ihm die dynamischen Kaufleute und Unternehmer radikaler Prägung. Sie hatten in den Mittvierzigerjahren in einem blutigen Putsch die politische Macht erobert und Amiel indirekt zu seinem Posten verholfen. Denn unter dem Diktat des charismatischen Regierungspräsidenten James Fazy entliessen die Radikalen den Grossteil der konservativ gesinnten Dozenten der Académie , sofern diese nicht von sich aus kündigten. Amiel brach, beflügelt von der Aussicht auf einen Lehrstuhl, seine Studien in Berlin ab und erhielt prompt seine Berufung. Die noch ausstehende Dissertation schrieb er in ein paar Wochen herunter; im Oktober 1849 hielt er die erste Vorlesung.
Aber die folgenden Jahre zeigten Amiel seine schiefe Stellung immer deutlicher auf. Weder gehörte er zum «Felsgestein» noch war er Radikaler, vom Temperament her eher ein stiller Gelehrter, doch mit künstlerischem Ehrgeiz. Er veröffentlichte, ohne grossen Erfolg, einige Gedichtbände, die ihn einem Kreis von Literaten, Malern und Musikern nahebrachten. Aber die damit verhakte Welt der Genfer Boheme blieb ihm zutiefst fremd, und die Bohemiens selbst rieben ihm seinen einzigen wahrhaften Publikumserfolg unter die Nase: Amiel hatte unter dem Titel Roulez, tambours! ein reichlich pathetisches Vaterlandslied verfasst. Zahlreiche Studienfreunde von früher waren Theologen und jetzt als Pfarrer oder Dozenten in der Stadt tätig. Aber auch zu ihnen fehlte ihm der rechte Zugang. Sie schienen ihm verkörpert in seinem Schwager Franki Guillermet: rechtschaffen und dabei ehrgeizig, dauernd gemessen an ihren Erfolgen mit «schwungvollen», «mitreissenden» Predigten – ein Graus!
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