Sie hatte von einer braunweißen Kuh geträumt, die hoch auf einem weit entfernten Wiesenhügel stand und fraß und fraß: ihr schwerer Körper mit den dünnen Beinen hob sich gegen den helleren Horizont ab. Ein Bild der Ruhe und Fruchtbarkeit. Alles war voller Gras und Klee, ein grünes Meer. Warum nicht wie diese Kuh sein?
Danach kam der Albtraum . Wieder schüttelte sie sich und streckte ihre Hand zur Kommode nach dem Zettel aus, den ihr Karlsbeck gegeben hatte.
Die erste Anschrift war ein Mann namens Brodowsky, er vermietete Privatzimmer an Sommerfrischler. Sie setzte sich auf die Bettkante und blickte sich nach ihrem Gepäck um.
Dann duschte sie in dem Etagenbad neben der Toilette, das sich am Ende des Korridors befand.
Sie legte ein frisches Kleid auf das Bett und steckte ihr langes Haar nach dem Kämmen mit Spangen hoch.
«Es wird nicht so einfach sein, wie ich anfangs geglaubt habe», murmelte sie, eine Haarspange im Mund bewegend.
Noch auf Mayotte war sie voller Optimismus gewesen. Karlsbeck spöttelte über Burundi. Davon darf ich mich nicht täuschen lassen, dachte sie. Wie man ihr gesagt hatte, war es seine Art, über alles und jedes sarkastisch oder zynisch zu reden – auch über Dinge, die ihm etwas bedeuteten.
Es verschaffte ihm wohl ein Gefühl der Überlegenheit. Wenn man Distanz bewahrte und alles ins Lächerliche zog, lief man nie Gefahr, eines Tages der Naivität bezichtigt zu werden.
Sie nahm ihren Umhängebeutel und die Reisetasche und zahlte in der Gaststube. Sie war nicht zum Essen aufgelegt, obwohl man ihr ein Frühstück anbot. Wenn sie nervös oder unpässlich war, verging ihr der Appetit.
Es standen drei Adressen auf dem Zettel
Brodowsky war ein gutmütig dreinblickender dicklicher Mann. Er trug Shorts und hohe weiße Turnschuhe, was ihm ein etwas komisches Aussehen verlieh. Seine hellen Arme und haarlosen weißen Beine standen in merkwürdig lächerlichem Gegensatz zu seinem braungebrannten Gesicht.
Er bedauerte, ihr kein Zimmer anbieten zu können. Leider habe er das Haus voller Gäste – Franzosen und Belgier – da übers Wochenende in der benachbarten Stadt ein internationales Schwimmturnier sei. Die Hotels und Pensionen dort seien restlos ausgebucht. Er nannte ihr eine der beiden Adressen auf dem Zettel.
Sie arbeiten zusammen und schieben sich gegenseitig die Gäste zu, dachte sie.
«Herr Kuben vermietet allerdings nur zwei Zimmer, eins davon ist manchmal für einen Freund reserviert, der sich zumeist in Costa Rica aufhält, seit er hier vor einiger Zeit in berufliche Schwierigkeiten geriet.» Er strich sich über die weißen Arme. «Am Ortsausgang rechts, hinter der Tankstelle. Vielleicht haben Sie Glück. Das Haus in den Obstgärten. Es ist nicht zu verfehlen.»
Sie nahm ihre Tasche und ging langsam die Straße zwischen der Tankstelle und den letzten Häusern des Ortes entlang. Es war ein flaches Land, eine riesige Ebene bis zum Horizont, grün und fruchtbar. Dort am Horizont musste irgendwo das Meer liegen. Der Himmel breitete sich heute blau – mit nur wenigen Dunststreifen – über den Weiden und Äckern aus.
Die Pappeln standen ein wenig schräg, der vorherrschenden Windrichtung zuneigend. Es war, als spüre man bereits etwas von der jodhaltigen Luft des Meeres. Schwarz-weiße Milchkühe standen wiederkäuend in einiger Entfernung.
Ich muss diese braunweiß gefleckte Kuh irgendwo während der Bahnfahrt vom Flughafen gesehen haben, grübelte sie. Wohl mehr oder weniger in Gedanken versunken, unbewusst. Hier gab es keine hohen Wiesenhügel. Im Traum hat sich dann das Bild zurückgemeldet, sozusagen, um sein Recht geltend zu machen und gebührend beachtet zu werden in seiner verführerischen Ruhe.
Das allein ist der Grund für die kleine Verdrängung – und warum es mich so betroffen gemacht hat, beruhigte sie sich.
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt schon überwunden. An den weit auseinander stehenden Obstbäumen, zumeist niedrigstämmigen Busch- und Spindelbäumen und auf dem schmalen Sandweg, der sich zwischen ihnen hindurchschlängelte, gab es kaum Schatten.
Kubens Haus war ein seegrün gestrichener, glattverputzter Bau ohne Balkon, einstöckig, mit rotem Ziegeldach und einem Anbau, dessen Außenwände aus Teerpappe bestanden. Im Parterrefenster am Eingang befand sich ein Schild: Zimmer mit Frühstück. Neben der Schrift war die schwarze Silhouette eines sitzenden Anglers abgebildet, an dessen durch die Luft wirbelnder Schnur ein Fisch zappelte, der kaum weniger groß war als der angelnde Mann.
Darunter stand, etwas kleiner, als handschriftlicher Zusatz: Nachhilfestunden in Geschichte, Mathematik und Englisch nach Vereinbarung.
Sie musste nur einmal läuten, es wurde gleich geöffnet. Der ältere Mann im Flur sah bleich aus und wirkte ein wenig vertrottelt – trotz seines arrogant lächelnden Mundes.
Gott, wenn sie alle so sind ... dachte sie und starrte auf seine leuchtend blauen Wollsocken, die in offenen Hausschuhen steckten.
Er räusperte sich.
«Bitte entschuldigen Sie …», sagte sie, es war ihr peinlich, seine Füße so angestarrt zu haben. «Ich bin …»
«Ja?»
Dann sah sie in sein Gesicht, sein Kopf war ungewöhnlich klein.
«Ich … man hat mir Ihre Adresse .. .»
Sie hielt linkisch den Zettel hoch, als benötige sie eine Referenz für das Zimmer.
«Von Herrn Karlsbeck …»
«Zum Übernachten?», fragte er. «Sie haben Glück. Es ist noch ein Zimmer frei. Allerdings nur für zwei Tage.»
«Ich denke, ich nehme es», nickte sie und stellte ihre Tasche im Treppenhaus ab, hob sie dann aber wieder auf.
«Sie wollen es sich nicht erst ansehen?»
«Ich werde es sofort bezahlen», sagte sie entschlossen.
«Zahlen Sie, wenn Sie abreisen. – Ist das Ihr ganzes Gepäck?» Er versuchte, ihr die Tasche abzunehmen.
«Danke, es geht schon.»
«Wie Sie wollen. Das Zimmer ist am Ende des Korridors, im ersten Stock.»
Er stand da und blickte ihr gedankenverloren nach, während sie die Treppe hinaufging.
Das Zimmer war hübsch! Mit fast neuen Möbeln aus hellem Holz und dem Ausblick in die Obstplantage. Sie setzte nur ihr Gepäck ab. Beim Hinausgehen sah sie durch die durchbrochene Wand des Korridors, dass Kuben im Anbau weitere Fremdenzimmer einrichtete.
Neben den Türen standen, noch in Kartons verpackt, neue Möbel, einige waren bereits geöffnet. Obwohl es schon kurz vor zwei war, verspürte sie keinen Appetit, sie machte sich gleich auf den Weg zu Karlsbecks Gehöft. Im Ort blickte sie sich mehrmals neugierig um, es schien ihr aber niemand zu folgen.
Vielleicht will er mir nur einen Bären aufbinden mit seinen Agenten im Ruhestand! dachte sie. Das würde ich ihm zutrauen. Während der Zeit, in der er im Ingenieurbüro des Staudamms gearbeitet hatte, war er wohl nie als Agent verdächtigt worden. Jedenfalls nicht zu Anfang.
Anders als den Engländern, Franzosen oder Russen bedeutete den Deutschen Mayotte nichts, sie vertraten dort keinerlei Interessen.
Der Gedanke, die Engländer könnten Karlsbeck auf dem Wege ihrer Zusammenarbeit mit den westdeutschen Geheimdiensten gerade darum auf Mayotte eingesetzt haben, weil er unverdächtig wirkte, schien lange Zeit niemand gekommen zu sein.
Karlsbeck trat unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, als die Zentralregierung von Groß-Komoro zwei ausgemusterte französische Kanonenboote vor Mayotte auffahren ließ, um den abgefallenen Inselstaat zu unterwerfen. Seitdem eine neue Befragung das Memorandum über den Anschluss an Frankreich – ob nun, wie gelegentlich behauptet wurde, durch Burundis Anhänger gefälscht oder nicht – für «außer Kraft gesetzt» erklärt hatte, betrieb Groß-Komoro nur um so nachdrücklicher die Heimführung ins Reich.
Ein schwarzes Kapitel ihrer kurzen Geschichte als «Seemacht», denn Karlsbeck galt schon damals als ein ausgezeichneter Sprengstoffexperte.
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