„Sie ändert dort oben die Richtung und zieht sich um die Bergflanke herum“, sagte ich. „Irgendwo auf der anderen Seite muss sie wieder nach unten führen, auf einen der Hochpässe zwischen den Bergen im Süden zu.“
„Dann haben wir noch einen weiten Weg vor uns, bis wir sehen, wohin sie tatsächlich geht“, meinte der Magi.
Wir hatten nach Süden gesehen, nun rief aber Pia: „Was ist das dort?“ Dabei deutete sie in nördlicher Richtung nach oben.
„Etwas Dunkles zwischen den Felsbrocken“, sagte ich. „Sollen wir es uns ansehen?“
„Ich bin dafür“, antwortete sie. „Es ist das erste Auffällige an dieser Bergflanke.“
„Gibt es einen Weg dort hoch?“, fragte der Magi.
„Um das zu sehen, müssten wir näher herangehen.“
Ein paar Minuten später sahen wir einen schmalen Trampelpfad, der von der Straße weg auf eine Holzhütte zu führte. Sie befand sich so versteckt zwischen zwei großen Felsblöcken, dass man sie von unten nur von der Stelle aus entdecken konnte, an der Pia zufällig gestanden hatte.
„Wer lebt dort - Mensch oder Tier oder Monster?“, fragte ich. „Wir suchen nach Spuren, bevor wir in näher herangehen.“
Tatsächlich fanden wir Stiefelabdrücke. Ob die frisch oder alt waren, war allerdings nicht zu erkennen. Es wuchsen keine Pflanzen, an denen man ablesen konnte, wann sie ungefähr niedergetreten worden waren.
„Also Menschen“, sagte der Magi. „Wenn die Hütte bewohnt ist, müssen die Leute gehört haben, wie wir uns vorhin mit Serron und dem Fürsten verständigten. Laut genug gerufen haben wir ja.“
„Wir gehen hinein“, entschied ich. „Ich klopfe an. Falls niemand öffnet, breche ich die Tür auf. Magi, Sie bleiben hinter mir. Nur für den Fall, dass dort drinnen der Magier lebt, der diesem Berg eine Tarnung verpasst hat. Pia, du wartest vor dem Eingang und hältst uns den Rücken frei.“
Ich sah Pia an, dass sie nicht begeistert war, aber sie widersprach nicht, sondern zog ihren Säbel.
Wir gingen den Pfad hoch bis zur Hütte und ich klopfte an. Keine Reaktion. Also drückte ich gegen die Tür. Sie war nicht verschlossen. Langsam ging sie auf. Drinnen waren keine Möbel oder andere Hinweise darauf, dass hier jemand lebte. Der Boden und die Rückwand bestanden aus nacktem Felsgestein, sie war also direkt an die Bergflanke herangebaut worden.
„Keine Hinweise auf Bewohner“, sagte ich leise. „Vielleicht soll dieser Verschlag nur Reisenden bei schlechtem Wetter als Schutzhütte dienen. Schade! Den Weg hätten wir uns sparen können.“
Magi Achain stand neben mir und ich bemerkte, dass er wieder die Augen geschlossen hatte und sich konzentriert.
Ich wartete ab, bis er sie öffnete, und fragte: „Etwas Neues?“
„Nur ein neuer Gedanke: Wer einen ganzen Berggipfel tarnen kann, der kann auch einen Höhleneingang tarnen. Da diese Hütte hinten an den Fels angebaut ist ...“
„Was?“, fragte ich.
„Existiert die Rückwand vielleicht gar nicht. Womöglich ist sie auch nur eine Illusion.“
„Das lässt sich herausfinden“, sagte ich und ging voran.
Ich streckte zunächst nur den Arm aus, um das Felsgestein abzutasten. Es existierte nicht! Meine Hand verschwand in der scheinbaren Wand vor mir.
„Tatsächlich, eine Tarnung“, sagte ich zu Magi Achain, der hinter mir stand und zusah. „Ich taste mich jetzt langsam voran. Diese Scheinwand könnte auch eine Fallgrube verbergen.“
Als mein halber Arm in der Illusion war, spürte ich einen Ruck. Jemand packte mich und zog mich nach vorne. Hinter mir hörte ich einen überraschten Ausruf von Magi Achain. Ich stolperte und stand im nächsten Moment in einer weiten Halle. Das war zunächst das Einzige, was ich sah, denn mehrere Gestalten warfen sich auf mich. Ich stürzte und sie drückten mich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden.
Gleich darauf hörte ich einen dumpfen Schlag und jemand lag neben mir. Das konnte nur der Magi sein. Anschließend waren grollende Rufe zu hören, bei denen ich nicht einmal sicher war, ob es sich um Worte in einer fremden Sprache oder um Tierlaute handelte. Es war mir nicht möglich, mich darauf zu konzentrieren, weil ich Mühe hatte, Luft zu bekommen.
Plötzlich war ich frei und konnte mich herumdrehen. Ich starrte in die Gesichter mehrerer seltsam aussehender Männer. Einer von ihnen streckte mir seine Hand entgegen und half mir auf. Dabei bemerkte ich, dass man mir den Degen und den Dolch abgenommen hatte. Gegenwehr war also nicht möglich.
Ich sah mir unsere Gegner an - wenn sich um Gegner handelte. Sie waren kleiner als ich, kräftig gebaut, und trugen alle dieselbe sandfarbene Bekleidung, bestehend aus einer ärmellosen Weste und einer Hose mit viel zu weiten Beinen. Ihre breiten Gesichter wirkten fett, die Augenbrauen und Wangen sahen aus wie Wülste. Dazu kamen kurze Hälse, Stiernacken und bei allen derselbe, kurze Haarschnitt, der ihre Köpfe wie Bürsten wirken ließ.
Aber es waren eindeutig Menschen und ich hatte sogar eine Vermutung, woher sie stammten, denn ihre Augen waren schmal wie Schlitze zwischen den Fettwülsten. Solche Augen hatte die Besatzung des Schiffes aus Askajdar gehabt, das uns aus den Ringlanden an die Küste von Thorgard brachte.
Magi Achain lag am Boden. Er hatte sich noch nicht von dem Schlag erholt. Einer der Fremden griff nach ihm, krallte sich in den Rücken seiner Jacke und zog ihn hoch, als wiege er nichts. Er stellte ihn aufrecht hin und hielt ihn fest.
„Wer sind Sie?“, fragte ich die Männer. Da ich größer war als sie, konnte ich über ihre Köpfe hinweg sehen und schätzen, dass mehr als ein Dutzend um uns herumstanden. Wir befanden uns in einer weiten, domartigen Höhle, die durch einen senkrecht stehenden, mannshohen Zylinder in ihrer Mitte hell erleuchtet wurde. Mehrere Öffnungen in den Wänden führte in Gänge. Dies war also so etwas wie die Eingangshalle zu einem ganzen Höhlensystem.
Einer der Männer, der sich im Äußeren nicht von den anderen unterschied, antwortete auf meine Frage in harschem Tonfall. Das war eindeutig ein Anführer. Allerdings verwendete er eine unverständliche Sprache. Und die glich nicht dem Askajdanisch, das auf dem Schiff gesprochen worden war. Wer waren diese Leute?
Nun kam von hinten ein weiterer Mann heran. Er war deutlich älter als die anderen, ging gebeugt und stützte sich auf einen Stab. Bei ihm hingen die Fettwulste im Gesicht schlaff nach unten, wie die Hautfalten bei manchen Hunderassen. Man machte ihm Platz und er musterte den Magi und mich, ohne etwas zu sagen. Dann hob er den Stab und hielt ihn mir entgegen, als wolle er ihn mir geben.
Ich griff nicht danach, weil man das als feindselig hätte verstehen können. Auch so ein Stab konnte eine Waffe sein, und ich wollte den Fremden keinen Vorwand liefern, mich noch einmal niederzuschlagen.
Einen Moment später zog der Alte den Stab wieder zurück und ich sah aus den Augenwinkeln, wie Magi Achain zusammenbrach. Ich wollte mich nach ihm umdrehen, aber da packten mich einige der umstehenden Männer und brachten mich weg.
„Was ist mit ihm?“, rief ich. „Helft ihm auf ...“
Ich sprach nicht weiter, weil unerwartet Pia Tenga neben mir stand. Auch sie wurde von zwei der Fremden festgehalten.
„Was sind das für Leute?“, fragte sie mich.
„Weiß ich nicht. Sie können oder wollen unsere Sprache nicht sprechen. Der Alte dort drüben scheint ihr Anführer zu sein. Ich vermute mal, er ist Magier und auch für die Tarnung des Berges verantwortlich.“
Wir konnten uns unterhalten, weil man uns nicht wegführte, sondern beisammen stehen ließ.
Den Grund erfuhr ich, als man ein paar Minuten später nicht nur Magi Achain zu uns brachte, der einen benommenen Eindruck machte. Auch Serron und Fürst Borran, die unten bei unseren Pferden gewartet hatten, führte man herein. Ich sagte den Neuankömmlingen, dass wir uns nicht mit den Fremden unterhalten konnten und deshalb nicht wussten, wer sie waren.
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