„Was tust du?“, der Chef schaute ihm nervös zu, während Peter die Jacke anzog.
„Ich gehe in Urlaub“, sagte er ruhig.
„Du gehst jetzt nicht!“, brüllte der Chef.
„Ich muss“, war das Einzige, was Peter dazu einfiel.
„Wenn du jetzt dieses Gebäude verlässt, dann brauchst du dich nicht mehr blicken zu lassen“, er spuckte ihm die Worte förmlich über den Schreibtisch. Sein Gesicht war knallrot und er sah aus, als würde er jeden Augenblick vor Wut zerspringen. Peter genoss beinahe dieses Szenario, fühlte sich eher als Zuseher, denn als Mitspieler. Er hatte seinen Chef noch nie besonders geschätzt. Eigentlich war er ein Mensch, der sich an den Schicksalen anderer Menschen ergötzte und damit eine Menge Geld machte. Peter blieb stehen und sah diese mitleiderregende Gestalt an. Er tat ihm leid. Mehr nicht. Peter wurde in diesem Augenblick schmerzlich bewusst, dass er bis vor Kurzem nicht anders war als dieser Mann. Er hatte absolut kein Mitleid mit den Menschen, die er in seiner Zeitung durch den Dreck zog. Er scherte sich nicht darum, wie sehr er andere damit verletzte. Es war ihm sogar egal, ob wirklich alles stimmte, was er schrieb. Sollten sie doch die Zeitung verklagen, wenn es ihnen nicht passte. Ihm war es einerlei. Er war ein arrogantes Arschloch – und stolz darauf!
Peter richtete sich den Kragen, nahm seinen Aktenkoffer, tat noch alle seine persönlichen Sachen hinein und bemühte sich dann, ihn zu schließen. Sein Chef hatte sich auf den Sessel vor dem Schreibtisch niedergelassen, denn er merkte, dass Peter es ernst meinte. Nervös knetete er seine Hände und versuchte nun doch einzulenken.
„Peter. Nun sei doch gescheit. Du weißt, dass es keinen Urlaub vor Redaktionsschluss gibt. Ich kann dich nicht weglassen.“
Peter hatte nun mit Müh und Not den Deckel des Aktenkoffers geschlossen. Er hob den Kopf und wich dem Blick des Chefs nicht aus.
„Es tut mir leid. Ich gehe. Ich kann nicht bleiben. Auch wenn du es momentan nicht verstehst.“
Mit diesen Worten und hoch erhobenem Kopf verließ er sein Büro. Sein Chef blieb noch auf dem Sessel sitzen und sah ihm nach. Er wusste, dass er es akzeptieren musste. Wenn Peter etwas sagte, dann zog er es durch. So gut kannte er seinen Mitarbeiter, der jetzt seit mehr als zehn Jahren bei ihm als einer der besten Journalisten gearbeitet hatte. Aber er konnte nicht verstehen, wie er seinen Posten so mir nichts dir nichts aufgab.
Draußen vor dem Bürogebäude musste Peter stehenbleiben. Ihm war plötzlich schwindelig. Er hatte sich oben im Büro selbst nicht wiedererkannt. Er hatte sich jahrelang mit Fleiß und Mühe nach oben gearbeitet und war Leiter einer eigenen Abteilung. War es wirklich notwendig gewesen seinen Job aufzugeben, den er sehr liebte? Eine innere Stimme sagte ihm: „Ja“. Oder war es Lis Stimme?
„Wow“, sagte Li laut.
Peter wiegte den Kopf hin und her.
„Ich weiß nicht, ob das so cool war, Li. Ich bin jetzt arbeitslos.“
„Na und? Schlechter Mensch, dein Chef“, meckerte sie.
„Warum?“, wollte Peter wissen.
„Weil ich es fühle. Menschen sind egal. Er hat hartes Herz“, erklärte sie ihm.
„Er hat einen schweren Job“, versuchte ihn Peter zu verteidigen.
„Nein. Job kann man gut oder schlecht nutzen“, Li klang ärgerlich. Peter sagte nichts. Was kannte Li sich schon aus in dieser Branche.
„Ich kenne Unterschied von gut und böse“, sie wirkte plötzlich selbst böse.
„Ist schon gut, Li“, versuchte er sie zu beschwichtigen.
„Man kann in Zeitung Geschichten schreiben, die Menschen helfen oder man kann schlimme Sachen schreiben, an denen sich Leute freuen, weil böse Dinge nicht ihnen selber passieren sondern anderen auf Kopf fallen“, fuhr sie unbehindert fort.
„Aber gute Geschichten interessieren niemanden. Sie wollen Action, Spannung und Mord. Das interessiert die meisten“, war Peter überzeugt.
„Da bist du ganz sicher?“, Li wirkte explosiv. Peter wusste, dass er sie nicht mehr allzu sehr reizen durfte. Deshalb versuchte er noch einmal zu erklären.
„Menschen sind neugierig, Li. Sie sind froh, wenn es ihnen selbst gut geht. Je schlechter es anderen Leuten geht, desto mehr freut es sie, dass sie in einem schönen, warmen Haus sitzen, genug, mehr als genug, zu essen haben und sich Urlaube leisten können, die in Länder führen, wo Menschen auf der Straße wohnen. Nur hier sehen sie wieder, wie gut ihr eigenes Leben ist. Wenn es gute Menschen sind, dann spenden sie an Weihnachten für Licht ins Dunkel oder für Nachbar in Not . Damit meinen sie, ihre Schuld getan zu haben. Li, es ist so. Du wirst es nicht ändern können. Leute ergötzen sich an den Schicksalen anderer. Und noch mehr Freude bereitet es, wenn die Reichen und Schönen Probleme haben, denn ein perfektes Glück UND viel Geld, das ist keinem gegönnt.“ Li sagte nichts.
„Na, siehst du, ich habe recht!“, triumphierte Peter nach einer Weile.
„Nein. Hast du nicht“, sagte sie trotzig.
Peter verdrehte die Augen. Kleines Mädchen!
„Du schreibst gut, Peter, das weiß ich. Du kannst eine gute Geschichte schreiben. Leute werden sie lesen. Je mehr Menschen gute Geschichten schreiben, desto mehr werden Menschen anfangen, anders denken. Schlechte Geschichten müssen weggehen. Gute mehr werden. Einer muss damit anfangen. Das bist DU!“ Peter beschloss, nichts darauf zu sagen. Er merkte wohl, dass etwas Wahres an Lis Gedanken war. Jeden Tag wurden die Menschen mit negativen Nachrichten regelrecht überflutet. Wie oft hatte er wütend den Fernseher ausgeschaltet, weil er sich danach noch depressiver fühlte als zuvor. Es konnte einem Angst und Bange werden, wenn man die Vorfälle auf dieser Welt beobachtete. Es gab Mord und Totschlag, Verwüstungen, Kriege. Es werden Vermögen ausgegeben für Waffen, aber neben Kriegsschauplätzen verhungern Kinder. Und es gibt nicht einmal das nötige Trinkwasser. Irgendetwas lief da schief. Da hatte Li schon recht. Aber konnte man das ändern?
„Natürlich kannst du etwas ändern. Jeder Mensch kann ändern. Nicht viel. Klein bisschen. Aber jedes klein bisschen ist etwas. Bei uns sagt man: „Jedes Stein das du ins Meer wirfst, verändert das Meer.“
Peter sah sich in Gedanken am Strand stehen. Die Sonne ging gerade unter. Es war eine wundervolle Abendstimmung. Er warf einen Stein ins Meer. Ein kleiner Spritzer war alles, was von dem Stein überblieb. Dann war nichts mehr zu sehen.
„Ungläublicher!“, meckerte Li.
„Ungläubiger!“, verbesserte Peter die gereizte Stimme. Er hatte etwas zu laut geredet, denn die Leute in der U-Bahn, die ihm am nächsten standen, drehten sich alle abrupt zu ihm um und sahen ihn an. Aber als er nichts anderes mehr sagte, wurde er uninteressant und jeder beschäftigte sich wieder mit seinen eigenen Gedanken. Zuhause angekommen merkte er, dass er das versprochene Essen vergessen hatte. Beatrice hatte den rosa Jogginganzug seiner Schwester an und die Haare zu einem Knoten zusammengedreht. Ungeschminkt sah sie beinahe jünger aus, fand Peter, als er ihr lächelnd einen guten Morgen wünschte. Es war erst kurz nach zehn.
„Was machst du schon hier? Ich habe dich nicht vor ein Uhr erwartet.“ Beatrice wurde die Peinlichkeit dieser Worte erst bewusst, als sie sie bereits ausgesprochen hatte. Es hörte sich an, als wären sie ein Paar. Beatrice wurde rot. Peter lächelte weiter. Er wusste genau, was sie dachte.
„Ich bin seit heute arbeitslos!“, sagte er so nebenbei.
„Was?“, Beatrice klang besorgt.
„Das hat nichts mit dir zu tun. Du kannst solange bleiben, bis du neue Papiere und Arbeit hast. Ich habe versprochen, dir zu helfen und das werde ich tun.“ Beatrice fühlte sich nicht wohl und zupfte nervös an ihrer Joggingjacke.
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