Im Polizeihauptquartier herrschte Aufregung. Johann kam gerade mit einem Kollegen vom „La Nuit“ zurück. Obwohl sie allen „Bewohnerinnen“ des Bordells gesagt hatten, sie dürften das Haus nicht verlassen, bis der Fall gänzlich abgeschlossen war, fanden sie keine einzige „Dame“ mehr vor, wie sich Johann ausdrückte. Zwar hatten sie von allen Frauen die Personalien, aber er konnte schwören, dass diese Daten zu vergessen waren. Sie würden sie nicht so schnell wiederfinden. Außerdem war das Zimmer von Li versiegelt gewesen. Doch irgendjemandem dürfte das herzlich egal gewesen sein, denn auch dieses Zimmer war durchwühlt worden.
Der Fall war klar. Es war Selbstmord. Da es einen Abschiedsbrief gab und dieser von der Staatsanwaltschaft bereits geprüft worden war, gab es keinen Anlass mehr, wegen Mordes zu ermitteln. Doch die zweite Sache lag etwas schwieriger, denn dieses Mädchen war illegal in Österreich und noch dazu minderjährig. Dieser Tatsache musste nachgegangen und die Zuhälter dafür zur Verantwortung gezogen werden. Aber das Büro von Mario Matschi war leer. Sämtliche Papiere und sonstige Unterlagen waren verschwunden, ehe die Polizei noch Einsicht nehmen konnte. Johann war sauer. Dieser Abschaum von Menschen! Andererseits war es ihm auch egal. Sollten sich doch alle selbst oder gegenseitig ermorden. Was ging es ihn an? Und dieses Mädchen, auch wenn sie noch so jung war, war auch nicht besser. Sie tat ihm keine Sekunde leid. Sie hat sich das alles bestimmt selbst eingebrockt. Nutte!
Johann biss in eine warme Leberkässemmel. Das Fett der geschmolzenen Mayonnaise rann ihm über das Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel weg. Seine Kollegin drehte sich angeekelt weg und führte ein Telefonat. Er überlegte. Beatrice, dieses geile Luder, die hatte einiges gewusst. Er ärgerte sich, dass er sie nicht hierbehalten konnte. Von der hätte er bestimmt etwas erfahren. Außerdem…. Johann spürte eine Erektion. Die wäre es schon wert gewesen. Er lachte dreckig. Seine Kollegin drehte sich rasch um und sah ihn fragend an. Johann winkte ab und stopfte den letzten Rest der Semmel in den Mund.
Da war doch noch dieser Typ von der Zeitung, der bei der vietnamesischen Hure war und behauptet hat, nicht mit ihr Sex gehabt zu haben. So ein Idiot! Zahlt und vögelt nicht! Aber die Gerichtsmedizin hat keine Spuren von ihm gefunden. Er hatte also nicht gelogen. Johann schüttelte verständnislos den Kopf. Da war auch noch die Rede von einem gewissen Erwin. Der hatte Li als Letzter lebend gesehen, beziehungsweise hatte noch Sex mit ihr. Den müsste man erwischen. Doch vielleicht wusste dieser „Pressefritze“ mehr, als er zugab. Johann beschloss, ihn sich noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Peter hatte auf dem Weg nach Hause eingekauft, um seinen gähnend leeren Kühlschrank etwas aufzufüllen, während Klara im Wagen auf ihn wartete. Zur Sicherheit nahm Klara Nadel und Zwirn und ein paar Sicherheitsnadeln mit, weil sie ahnte, dass Beatrice um einige Kilos weniger auf die Waage brachte als sie selbst. Ein paar Sachen hatte sie allerdings im Kleiderschrank gefunden, die ihr seit mindestens drei Jahren nicht mehr passten, aber weil es einmal Lieblingsstücke waren und Klara hoffte, endlich wieder fünf Kilo abzunehmen, hingen die Sachen noch immer im Schrank und konnten von ihr nicht getragen werden. Klara wusste, dass es für einen guten Zweck war, also nahm sie sie freudig aus dem Kleiderschrank und packte alles zusammen in einen Koffer, den sie Beatrice ebenfalls schenken wollte. Theo und sie hatten zusammen mindestens zehn Koffer. Es spielte keine Rolle, wenn einer fehlte.
Schließlich saßen Beatrice und Klara an einem Tisch und unterhielten sich über Mode. Peter versuchte so gut wie möglich ein Sugo aus Faschiertem, Zwiebeln, Karotten und Tomatensauce herzustellen. Er hatte wieder einmal Lust auf eine warme Mahlzeit. Beatrice bot ihm ihre Hilfe an, die er aber dankend ablehnte. Beatrice war entzückt über die Sachen, die ihr Klara mitbrachte. Da Klara ein von Natur aus aufgeschlossener und neugieriger Mensch war, konnte sie sich blendend mit jedermann unterhalten. Sie wurde immer vertrauter mit Beatrice und fragte sie auch nach Einzelheiten über ihr Leben im Freudenhaus. Sie wollte wissen, wie viele Tage in der Woche die Mädchen zu „arbeiten“ hatten, ob es auch Mädchen gab, die diesen Beruf aus freien Stücken gewählt hatten und ob sie auch so etwas wie „Ausgang“ oder Urlaub hatten. Beatrice antwortete ihr breitwillig auf all diese Fragen und auf einmal wurde ihr schmerzlich bewusst, wie armselig ihr Leben war. Sie hatte so gut wie nie allein auf die Straße dürfen. Entweder war Mario mit dabei oder einer seiner Aufpasser. Mario traute keinem seiner Mädchen.
Beatrice konnte sich nur an ein einziges Mal erinnern, wo sie mit Marina einen Nachmittag lang einkaufen war. Marina war damals noch im „La Nuit“ tätig und sie war Marios Cousine und hatte denselben harten Charakter wie er. Wohl deshalb hatte Mario Vertrauen zu ihr und ließ beide gemeinsam weggehen. Marina zog mit einem von Marios Freunden nach Hamburg. Irgendwo auf der Reeperbahn wurde sie einmal von einer Kollegin gesehen, die berichtete, dass Marina abgemagert und kaputt aussah. Vermutlich war sie auf Drogen und mit dem Leben fertig. Beatrice lief es kalt über den Rücken. Wie armselig!
Sie merkte, wie plötzlich die Erinnerung an Amsterdam in ihr hochkam. Damals, als sie Mario das erste Mal traf. Er hatte ihr versprochen, sie „aus der Gosse“ zu holen. Er hatte ihr Arbeit versprochen und schöne Kleider. Weiters versprach er ihr, nie mehr hungern zu müssen. Er hatte ihr ein schöneres Leben versprochen. Und sie hatte ihm geglaubt. Mit knapp sechzehn Jahren. Klara merkte, dass sie in düstere Gedanken abschweifte und versuchte, sie wieder etwas aufzuheitern.
„Was wäre, wenn wir zwei einmal einen Einkaufsbummel machen würden?“, fragte sie und sah ihr dabei fest in die Augen.
„Ich bin zwar aus dem „La Nuit“ raus, aber jetzt sitze ich im nächsten Gefängnis. Ich habe keine Arbeit, kein Geld, keinen Pass und Mario und seine Freunde sind hinter mir her. Zu allem Überfluss hat die Polizei gesagt, ich soll mich für etwaige Fragen bereithalten. Nun sitze ich hier in der Falle.“ Beatrice biss sich auf die Lippen. Es war dumm von ihr, so etwas zu sagen.
„Wir werden uns etwas einfallen lassen“, erwiderte Klara rasch und sah Beatrice dabei nicht an. Es würde dauern.
Peter hatte in der Zwischenzeit die Spaghetti fertiggekocht und präsentierte stolz das Resultat seiner Kochkünste. Die beiden Frauen nahmen sich jede eine ordentliche Portion. Vor allem Beatrice hatte einen Mordshunger. Abgesehen von dem Stück Salami, das sie morgens mit einem Brot zu sich genommen hatte, hatte sie noch keinen Bissen gegessen. Sie spürte, wie der Magen knurrte und so schlang sie die ersten Spaghetti gierig hinunter. Schon nach ein paar Bissen fühlte sie sich wohler und begann die warme Mahlzeit in vollen Zügen zu genießen. Peter freute sich, dass den beiden Frauen das Essen schmeckte. Er hatte auch noch frischen Parmesan gekauft, den er ihnen in großen Stückchen auf die Pasta rieb. Sogar eine Schüssel mit frischen Salat stand sorgfältig zubereitet auf dem Tisch. Nach dem Essen servierte er Kaffee und einen fertigen Kuchen, den er zu besonderen Gelegenheiten zu kaufen pflegte. Seine Wohnung sah viel netter und wohnlicher aussah, wenn sie mit Menschen gefüllt war und ihm wurde schmerzlich bewusst, wie einsam er war. Klara lächelte ihn an und machte ihm ein Kompliment über seine Kochkunst. Peter lächelte zurück. Mein Gott, wie dumm war er gewesen! Er hatte eine Schwester. Eine ausgesprochen nette Schwester. Er hatte sie oft gemieden und nicht einmal richtig wahrgenommen. Aber warum war das so?
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