Sie hatten sie am Gewissen!
Beatrice stand nun am oberen Ende der Treppe und spähte vorsichtig hinunter ins Foyer. Von hier aus konnte man gut auf die Eingangstüre sehen. Eine breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe führte zu dem langen Gang, in dem die Zimmer der Mädchen untergebracht waren. Das Geländer war aus aufwändig geschnitztem Holz und der Handlauf spiegelte fettig, von den geifernden Händen der keuchend und erwartungsvoll, emporsteigenden Freiern, poliert. Die Eingangshalle war bis oben offen und die rot-gold gestreifte Tapete war wohl mit ein Grund dafür, dass das Ambiente in einen alten Westernfilm gepasst hätte.
Beatrice schloss leise die Tür hinter sich, so als ob sie jemand hören könnte und schlich die Treppe hinunter, die unter ihren bloßen Füßen knarrte. Sie spürte den alten Teppich auf ihren blanken Fußsohlen. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass hier schon lange nicht mehr ordentlich geputzt worden war. Sie machte auf der Treppe kehrte und zog Schuhe an. Sie empfand Ekel für dieses Haus. Noch nie war dieses Gefühl so übermächtig gewesen. Wieder stand sie oben auf dem Treppenabsatz und zögerte. Der Aufenthaltsraum befand sich unten, gleich hinter der Bar. Alles kam ihr unheimlich vor. Viel zu ruhig. Nervös sah sie sich um, bevor sie eilig die Stufen hinunterlief, die Bar durchquerte und die Tür zu dem Aufenthaltsraum hastig öffnete und wieder hinter sich zuzog. Gierig nahm sie alles Essbare aus dem Kühlschrank heraus. Ein großer Laib Brot lag noch unberührt auf dem Tisch. Von einer Stange Salami schnitt sie eine dicke Scheibe ab und stopfte sie als Ganzes in den Mund. Der salzige Geschmack beruhigte sie ein wenig. Eine Scheibe Brot belegte sie mit Käse und nahm ein Gürkchen in die Hand, bei dem sie herzhaft abbiss.
Plötzlich hörte sie die Eingangstüre zuschlagen. Beatrices Herz blieb fast stehen. Leise stand sie auf und glitt fast lautlos in den hinteren Teil des Raumes, wo sich ein Kasten befand, in dem sie normalerweise die Kleidungsstücke aufbewahrten, die ihre Kunden vergessen hatten. Leise öffnete sie die Kastentür und kauerte sich hinein. Sie hörte Schritte. Jemand musste in der Bar sein.
„Beatrice!“
Es war eine Männerstimme, doch Beatrice erkannte sie nicht auf Anhieb. Die Kastentür dämpfte zusätzlich die Stimme aus dem Nebenraum. Noch einmal rief jemand.
„Beatrice! Melanie!“ Diesmal schrie er lauter.
Jetzt wusste sie, wem diese Stimme gehörte: sie kam von Erwin. Mario dieser Feigling musste ihn geschickt haben. Wieder rief er. „Melanie! Beatrice! Lucy?“
Er schrie noch lauter. Beatrice zitterte und hoffte, dass sich diese kleinen Muskelbewegungen nicht auf den Holzkorpus des Kastens übertragen und sie verraten würden. Dann öffnete er die Tür zum Aufenthaltsraum.
„Verdammt!“, fluchte er. Beatrice hielt den Atem an. Er schnaubte verächtlich und schlug die Tür wieder hinter sich zu. Sie hörte ihn die Treppe hinauflaufen. Sicher sah er jetzt in allen Zimmern nach. Beatrice bekam vor Angst kaum Luft.
Jedes Zimmer war leer. Die Mädchen hatten alle ihre Sachen mitgenommen. Sicher würde ihm auffallen, dass nur mehr ihre Habseligkeiten hier waren. Beatrice faltete die Hände:
„Lieber Gott! Falls es dich gibt, dann hilf mir, bitte! Lass ihn wieder verschwinden.“
Das Zittern hatte nun auch ihr Kiefer erreicht und sie hörte ihre Zähne unkontrollierbar aufeinander klappern, ohne sich dagegen wehren zu können. Erwin war in der Zwischenzeit in jedem Zimmer, außer dem von Li gewesen. Natürlich fiel ihm auf, dass alle Mädchen mitsamt ihren Sachen verschwunden waren. Nur in Beatrices Zimmer war alles beim Alten. Sie musste also noch irgendwo in der Nähe sein. Diese Schlampe! Wie konnte sie wagen, alle fortgehen zu lassen. Mario würde verdammt wütende sein. Er raste in das oberste Stockwerk. Beatrice hörte ihn schreien. Zweifellos hatte er jetzt bemerkt, dass die Mädchen nicht einfach so fortgegangen waren. Sie hatten alles was sie brauchen konnten mitgenommen. Sie hörte ihn wieder die Treppe herunterlaufen.
„Beatrice!“ hörte sie ihn brüllen. Sie hegte keinen Zweifel, dass sich jetzt ihr Zittern auf den ganzen Kasten übertrug.
„Bitte nicht!“ flüsterte sie.
Peter saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm lag ein weißes Blatt Papier. Er hatte den Kopf in beide Hände gestützt und konnte nicht denken. Was erwartete man von ihm? Was wollte sein Chef? Er sollte die Story schreiben! Da musste er zuerst recherchieren. Wie sollte sein Chef denn wissen, dass er schon alles wusste? Peter nahm seine Jacke vom Kleiderhaken und schloss die Bürotür hinter sich. Draußen begegnete er ausgerechnet seinem Chef. Er konnte ihm nicht in die Augen sehen.
„Hallo Peter. Bist du schon dabei? Eine verlässliche Quelle hat mir eben mitgeteilt, dass dein Schwager in diesem Fall involviert ist. Hefte dich ihm gleich an die Fersen. Ich weiß zwar, dass du nicht gerade so auf deine Familie stehst, aber…“, er grinste breit und klopfte ihm dabei freundschaftlich auf die Schulter, „der Zweck heiligt die Mittel!“ Peter empfand in diesem Augenblick nur Abscheu für diesen Menschen, dessen Lebensinhalt es war, mit anderen Menschen und deren Gefühlen zu spielen. So hatte er sein Leben lang Geld verdient, und zwar nicht wenig. Und er? Er selbst war auch nicht besser! Peter wollte raus. Er hielt es in diesen Räumen nicht mehr aus. Im Hinausgehen versuchte er ein tapferes Lächeln.
„Alles klar, Chef!“, und draußen war er. Auf der Straße atmete er kräftig durch.
„Was hast du vor?“, fragte eine leise Stimme neben ihm. Peter fuhr herum. Ihm blieb wohl nichts erspart! Er dachte der Spuk wäre vorbei. Resignierend sagte er, während er die Augen verdrehte:
„Hi, Li.“
„Hi!“, sie lachte.
„Du hast geglaubt, ich weg bin?“
„Ja, Li.“ Peter ging ein paar Schritte, dann blieb er wieder stehen.
„Li, ich glaube ich brauche deine Hilfe. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll.“
Er wartete. Auf dem Gehsteig kam ihm ein Pärchen entgegen. Erst als sie an ihm vorbei gegangen waren, fragte er weiter:
„Können dich andere Menschen auch hören?“
Li kicherte: „Nein!“
„Und was ist daran so witzig?“, Peter war ein wenig ärgerlich.
„Du bist sehr, sehr nervös“, antwortete sie ernst.
„Ich weiß, dass ich sehr nervös bin“, sagte er in gedämpften Ton, denn eine alte Frau sah ihn etwas merkwürdig an, während sie an ihm vorüberging. Es war jetzt gegen elf Uhr vormittags und Peter stand noch immer einige Meter von seinem Bürogebäude entfernt und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Da läutete plötzlich sein Handy. Klara!
„Hallo, Brüderchen. Ich habe eine Überraschung für dich!“ Peter stand zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht auf Überraschungen. Ungeduldig fauchte er ins Telefon:
„Klara. Sag mir, was es ist. Ich bin nicht für Spielchen aufgelegt!“
„Entschuldigung. Du hast eine Laune!“, sagte sie beleidigt.
„Wundert es dich? Jetzt hat mir mein Chef auch noch die Story über den Selbstmord aufgehalst. ICH soll sie schreiben. Keine Ahnung, wie er ausgerechnet auf mich kommt. Er wird doch nichts ahnen, oder?“
„Das ist sicher eine Herausforderung für dich. Willst du es verheimlichen? Wird schwierig werden“, sagte sie nachdenklich.
„Danke.“ Peter wurde übel.
„Aber ich rufe nicht deswegen an.“ Sie schwieg wieder. Peter war sehr ungeduldig, doch er versuchte ruhig zu bleiben.
„Sondern?“ Klara holte Luft.
„Ich habe den Brief von Li. Die Staatsanwaltschaft hat ihn schon geprüft und sie haben ihn an Theo ausgehändigt. Er hat in deinem Namen unterschrieben. Du kannst ihn dir bei uns abholen. Kommst du am Abend vorbei?“ Peter war jetzt aufgeregt.
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