„Warum erst am Abend? Kann ich ihn mir nicht gleich holen?“ Klara überlegte.
„Ich habe um vierzehn Uhr noch einen Termin, den ich auf keinen Fall absagen kann, aber um sechzehn Uhr können wir uns in der Stadt treffen. Im Cafe Central, ja?“
„Ich werde dort sein“, sagte er. Klara wartete noch einen Augenblick und sie wartete nicht umsonst.
„Danke, Klara. Danke für alles.“ Sie wusste, dass er es ernst meinte. Als er sein Handy wieder eingesteckt hatte, meldete sich die Stimme wieder, die er für einen Moment völlig vergessen hatte.
„Brief von Li?“, kicherte sie.
„Ja.“ Peter ging in Richtung U-Bahn. Aber er hatte keine Ahnung, wohin er wollte. Dann blieb er wieder stehen.
„Li. Du kannst mir auch erzählen, was du geschrieben hast. Dann brauche ich nicht darauf zu warten.“
„Lese Brief!“, befahl sie.
„Warum?“
Wieder ging ein Passant an ihm vorbei und warf ihm einen fragenden Blick zu. Peter beschloss etwas vorsichtiger zu sein.
„Li kann sich nicht erinnern.“
„Was? Wirklich?“ Er wartete auf Antwort. Doch sie kam nicht. „Kannst du dich nicht an das erinnern, was geschehen ist?“, fragte er sie. „Nicht an alles. Brief ist schön. Musst du selbst lesen.“ Gut. Peter wusste, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren. Plötzlich fühlte er eine große Angst in sich. Das Gefühl ging ihm bis unter die Haut.
„Li. Was ist das?“, fragte er instinktiv.
„Wir müssen zu Beatrice,“ sagte Li und ihre Stimme klang besorgt. Peter begann zu laufen. Er musste drei Stationen mit der U-Bahn fahren und stand nach zwanzig Minuten auf der gegenüberliegenden Straßenseite des „La Nuit“.
„Was soll ich hier, Li?“, fragte er besorgt. Li gab ihm keine Antwort. Panik machte sich in ihm breit.
„LI!“, rief er laut.
„Wieso du so schreist? Leute schauen schon“, flüsterte Li. Peter schloss die Augen.
„Warum erschreckst du mich derart? Ich dachte schon, du wärst nicht hier“, schimpfte er.
„Du mich vermisst?“, scherzte Li. Peter merkte, dass er sich bereits an ihre Anwesenheit gewohnt hatte. „Ich dich nicht verlassen“, setzte sie hinzu.
„Gut!“, war alles, was er sagen konnte.
Auf der anderen Straßenseite ging die Tür auf. Erwin erschien mit einem Aktenkoffer. Nervös blickte er nach rechts und dann nach links, ehe er die Tür hinter sich zuschlug und eilig zu einem Auto ging, den Aktenkoffer achtlos auf den Rücksitz schleuderte und schnell davonfuhr. Peter sah dem Auto nach und versuchte noch schnell das Kennzeichen zu entziffern, das er sich auf einem kleinen Zettel, den er zusammengeknüllt in seiner Jackentasche fand, notierte.
„Li. Können wir hineingehen?“, wollte er wissen.
Er musste ein wenig schmunzeln, weil er „wir“ gesagt hatte. Aber ihm fiel auch nichts anderes zu ihrer gemeinsamen Situation ein. Vorsichtig um sich blickend ging er zu der großen Tür mit den goldenen Türgriffen. Er läutete bei der Glocke und lauschte. Als auch nach einem weiteren Läuten niemand öffnete, ging er an das am nächstliegenden Fenster und starrte erfolglos durch das rote Milchglas. Er ging noch zwei Fenster weiter nach rechts. Dort musste eigentlich die Bar sein. Er klopfte. Zuerst zart, dann etwas fester. Doch auch da rührte sich nichts. Er klopfte noch einmal. Diesmal rief er „Beatrice! Ich bin es, Peter!“
Da meinte er im Inneren einen Schatten huschen zu sehen, klopfte wieder und rief ihren Namen. Drinnen rannte Beatrice bereits zur Tür und machte sie vorsichtig auf.
„Peter. Hier!“, sie fuchtelte aufgeregt mit den Händen. Er hatte sie bereits bemerkt und lief zur Tür.
„Erwin war hier! Peter, ich muss verschwinden. Es ist nur eine Frage der Zeit bis Mario hier auftaucht. Ich habe Angst.“ Peter nickte.
„Ich habe den Dicken hinauslaufen gesehen. Hat er dich bemerkt?“ Beatrice schüttelte den Kopf, während sie die Arme vor ihrer Brust verschränkt hielt und unaufhörlich mit den Händen ihre Oberarme rieb, wie um sich warm zu halten.
„Ich habe mich versteckt. Gott sei Dank hat er mich nicht gefunden, aber er hat nach mir gesucht. Er war fuchsteufelswild, weil alle Mädchen weg sind. Sie haben gestern Abend alles aus Marios Büro mitgenommen, was sie zu Geld machen können. Ich muss hier weg!“ Beatrice blickte verstört um sich.
„Wo willst du hin?“, fragte sie Peter. Ihr Blick blieb auf ihm kleben. Ihre Augen sahen ihn weit aufgerissen an.
„Ich weiß es nicht“, sie zuckte die Achseln. Mutlos ließ sie sie wieder sinken. Peter überlegte einen kurzen Augenblick.
„Du kommst mit mir. Ich werde dich für eine Weile verstecken, bis wir eine andere Lösung finden.“
„Würdest du das wirklich für mich tun?“, Beatrice sah ihn verwirrt an. Peter nickte. Er sah sich ängstlich um. Er hatte keine Ahnung, warum er das tat. Man würde ihn dafür vielleicht sogar töten … Es musste schnell etwas geschehen. Beatrice schien nicht dazu fähig zu sein.
„Komm“, er nahm sie bei der Hand und zog sie die Treppen hinauf.
„Wo ist dein Zimmer? Pack ein paar Sachen. Wir müssen so schnell wie möglich weg hier.“ Sie wühlte in ihren Sachen, während Peter nervös zur Tür sah.
„Ich habe nicht einmal einen Koffer. Wo soll ich alles hingeben“, fragte sie mutlos. Peter sah sich kurz um und lief zum Bett. Er warf das Bettzeug zu Boden und nahm das Leintuch vom Bett. „Mach schon. Gib alles hier hinein“, sagte er und bemühte sich, nicht ungeduldig zu wirken. Beatrice verstand. In Windeseile hatte sie ihre Jeans und den Rollkragenpullover angezogen. Ein Paar Lieblingsschuhe und zwei Handtaschen legte sie auf das Leintuch. Dann warf sie zwei Röcke und ein paar Tops auf den Haufen und nahm ein Negligé in die Hand, was sie aber angeekelt wieder in den Kasten zurückschleuderte. Sie riss die Schubladen heraus und gab noch ein paar Sachen, die ihr wichtig erschienen in das Leintuch, ehe es Peter zusammenschnürte und sich das Bündel über die Schulter warf.
„Hast du nichts vergessen? Dokumente?“
Beatrice schüttelte den Kopf. Eilig liefen sie wieder die Treppen hinunter. Ein Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem Haus und nachdem zwei Autotüren zuknallten, hörten sie aufgeregte Männerstimmen näherkommen. Peter hielt den Finger an die Lippen und zog Beatrice zu sich hinter den großen roten Samtvorhang, der direkt neben dem Eingang vor der Garderobe hing. Die Tür ging auf und Mario stürmte herein.
„Beatrice!“, brüllte er und Beatrice erschauderte beim Ertönen seiner Stimme. Peter hielt sie am Oberarm fest und sah sie ermahnend an. Hinter ihm lief Erwin schwer schnaubend herein.
„Du suchst im Erdgeschoß. Ich schau oben nach. Irgendwo muss dieses Luder ja sein. Sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Und sie hat viel zu viel Schiss davor, dass sie das Haus verlässt. Dafür habe ich schon gesorgt.“
Mario lief die Treppe hoch und Erwin eilte schwer atmend in Richtung Bar. Es blieben Beatrice und Peter nur ein paar Sekunden, um hinter dem Vorhang hervorzukommen und durch die noch offene Haustüre zu verschwinden. Sie liefen so schnell sie ihre Beine trugen. Hinter der nächsten Hausecke blieben sie kurz stehen. Panisch sah sich Peter um. Bis zur U-Bahnstation war es zu weit. Falls die beiden Männer die Gegend mit dem Auto abzusuchen begannen, würden sie sie sicher entdecken. Peter versuchte die Eingangstüre zu einem Wohnhaus zu öffnen und zu seinem Erstaunen gab diese auch nach. Schnell schlüpften sie in das kühle Treppenhaus. Beatrice ließ sich auf eine Stufe sinken und begann zu weinen. Es war einfach zu viel für sie. Peter griff nach seinem Handy und rief ein Taxi. Die Hausnummer hatte er sich gemerkt, bevor sie eintraten. Zehn Minuten später saßen sie im Taxi auf dem Weg zu seiner Wohnung. Niemand sagte ein Wort. Nicht einmal Li. Peter war froh. Er wollte nichts hören. Er schielte zu Beatrice. Was hatte er sich da eingebrockt? Andererseits hätte er sie unmöglich zurücklassen können. Peter beschloss, dass Beatrice vorübergehend sein Schlafzimmer beziehen sollte, da er ohnehin beinahe jede Nacht vor dem Fernseher einschlief. Er machte Platz für ihre Sachen und zeigte ihr die frischen Handtücher. Während sie eine Dusche nahm, die sie als sehr beruhigend empfand, machte er einen starken Kaffee. In der Spüle stand noch die halbvolle Kaffeetasse vom Vorabend. Und tatsächlich hatte sich ein dicker Rand gebildet, den er nun wegschrubben musste. Doch es war ihm egal.
Читать дальше