Brando ging auf sie zu und fragte:
„Was soll das, dass Ihr hier steht und ausseht wie eine Linie mit Wachsoldaten?“
„Wir haben den Auftrag, hier zu stehen und weitere Befehle abzuwarten!“, sagte der Ranghöchste unter den Soldaten, „uns werden jeden Moment Befehle erreichen und dann werden wir weitersehen!“
Die Männer liefen wieder zurück zu Shirin und sie beschlossen, alle zum Park zu laufen und dort in Erfahrung zu bringen, wie es in Gudon weitergehen sollte.
Der Bürgemeister hatte sich ein Zelt hinstellen lassen, in dem er eine Art Büro betrieb und Leute empfing, denen er Ratschläge gab oder sie sonst wie mit Ratschlägen versorgte.
Alles um sein Zelt herum und überhaupt auf dem Parkgelände war von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen und keiner wusste, warum.
Brando ging in das Bürgermeisterzelt und fragte ihn direkt:
„Lieber Bürgermeister, bitte sag mir doch, wann und wie es in Gudon weitergeht!“
Der Bürgermeister rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als hätte er Flöhe, die ihn juckten und er wollte mit seiner Sprache nicht heraus.
Schließlich sagte er aber zu Brando:
„Geh wieder hinaus zu Deinen Leuten und warte dort, ich habe eine Mitteilung zu machen, die Euch alle freuen wird!“
Und Brando ging wieder zu Shirin und den anderen, er konnte ihnen keine Antwort auf ihr Frage nach dem Weiter geben, nur dass der Bürgermeister eine Mitteilung machen wollte, die alle freuen würde.
Aber darauf konnte sich niemand einen Reim machen und sie gingen zum Versorgungszelt und holten sich jeder eine Tasse Tee, sie setzten sich dort hin und kamen mit anderen Nigren ins Gespräch, die auch nicht weiterwussten und ebenfalls vom Bürgermeister vertröstet worden waren.
„Wie weit seid Ihr denn mit Euren Trümmern?“, fragte Brando diejenigen, die am Nebentisch saßen und er erhielt zur Antwort:
„Wir sind längst fertig und warten darauf, dass wir neu bauen können, deshalb sind wir ja hier, um zu erfahren, wann der Neubau endlich beginnen kann!“
Und mit einem Mal ertönte die Megaphon-Stimme des Bürgermeisters, er war vor sein Zelt getreten und hatte sich mit dem Megaphon auf einen Stuhl gestellt.
„Liebe Mitbürger“, sagte er, „bitte geht zu Euch nach Hause und trommelt alle Eure Verwandten und Bekannten zusammen und kommt mit ihnen wieder her, ich werde in einer Stunde eine wichtige Mitteilung verkünden!“
Brando war ja schon mit allen, die zu ihm gehörten, im Stadtpark, aber die anderen liefen los und holten ihre Leute.
In der Wartezeit suchte Brando mit den Seinen ein Stückchen Rasen, das im Park noch liegengeblieben war und auf dem sie sich langmachen konnten.
„Was der Bürgermeister wohl erzählen wird?“, fragte Shirin und Brando antwortete:
„Es wird mehr sein, als die Mitteilung, dass wir zu bauen beginnen können, wir waren vor zwei Stunden oben am Haupttor, da ist nichts mehr, wie es mal war, der gesamte Zaun um Gudon ist weg und das Haupttor steht offen, ich glaube, dass uns der Bürgermeister etwas ganz Großes verkündigen wird!“
Nach und nach füllte sich der Platz, auf dem sie alle schon nach dem Beben gestanden hatten und als die Stunde um war, mischten sich Brandos Leute unter die anderen und warteten mit ihnen darauf, zu erfahren, was denn nun geschehen würde.
Da erschien der Bürgermeister vor seinem Stuhl und stellte noch einen zweiten Stuhl dorthin, er kletterte erneut auf seinen Stuhl und nahm das Megaphon.
„Liebe Mitbürger“, sagte er wieder, „heute ist der für Gudon wahrscheinlich wichtigste Tag der letzten Jahre, ich habe Euch zwei Dinge mitzuteilen.
Das erste ist, dass wir ab sofort Fertighäuser auf Eure Grundstücke stellen werden und das zweite ist:
Gudon ist mit sofortiger Wirkung frei, alle Nigren können gehen, wohin sie wollen, auch zu den Tolanern, die uns bei unseren Neubauten mit Hilfskräften und Maschinen unterstützen werden!“
Ein Raunen ging durch die Menge, was bedeutete, dass so recht niemand glaubte, was der Bürgermeister da sagte.
Aber plötzlich stieg neben dem Bürgermeister jemand auf den zweiten Stuhl und ließ sich das Megaphon geben, das war Aatu bei lebendigem Leib.
„Liebe Nigren“, sagte er gegen die Buhrufe, die ihm zu Beginn seiner flammenden Rede entgegenschlugen, „ich weiß, dass mich viele von Euch hassen werden und ich habe lange überlegt, ob ich mich überhaupt unter Euch trauen soll, aber ich habe mir schließlich einen Ruck gegeben und bin hierher gekommen.“
Wieder ertönten Buhrufe und manche riefen:
„Schnappt ihn Euch und hängt ihn auf!“, aber das waren Heißsporne, die sich wichtig machen wollten.
„Lasst ihn doch wenigstens reden!“, riefen andere, Besonnenere und Aatu fuhr dann fort:
„Ich weiß, wir Tolaner haben Euch großes Unrecht zugefügt und wissen im Grunde nicht, wie wir das wieder gutmachen können, bei uns allen ist die Erkenntnis gereift, dass wir Euch, besonders jetzt, wo Ihr so schlimm von dem Erdbeben betroffen seid, helfen und Euch Eure Freiheit wiedergeben wollen, ich möchte Euch meine Hände entgegenstrecken und hoffe, dass sie möglichst viele von Euch ergreifen.
Lasst uns einen Schlussstrich unter unsere alte Feindschaft ziehen und uns miteinander verbrüdern!
Ich weiß, dass es so manchem von Euch schwerfallen wird, jemandem der einmal erbittert gegen Euch gekämpft hat, die Hand zu reichen, ich bitte Euch, gebt Euch einen Ruck!“
Aatu stieg von seinem Stuhl herab und ging ein paar Schritte auf die Nigren zu, die in der ersten Reihe standen und er streckte seine Arme aus und wollte ihnen die Hand geben.
Aber sie wichen zunächst zurück und Aatu bewegte sich wie ein Raubfisch in einem Schwarm, der jeder seiner Bewegungen auswich.
Bis er auf einen Nigren zulief, der stehenblieb und ihm direkt in sein Gesicht sagte:
„Da bist Du also, der mir meine Familie genommen und alle umgebracht hat, die mir in meinem Leben einmal etwas bedeutet haben, Du hast sie ermordet und Elend und Leid über uns alle gebracht und Du wagst Dich unter uns!
Aber ich muss Dir Deinen Mut hoch anrechnen, dass Du Dich unter Deine Feinde traust und damit rechnen musst, dass sie üble Rache an Dir nehmen!
Dennoch, trotz aller negativen Gefühle, die ich gegen Dich uns alle Tolaner hege, reiche ich Dir meine Hand, weil ich glaube, dass nur auf diesem Wege unsere Völker eine gemeinsame Zukunft haben können!“
Aatu ging zu ihm und schlug ein, die beiden schüttelten lange die Hände und erst noch verhalten, dann aber schnell lauter werdend ertönte ein Jubel unter den Nigren, die erst jetzt zu begreifen schienen, was es für sie bedeutete, dass Aatu zu ihnen gekommen war.
Viele von ihnen gingen zu ihm, sie kannten ihn ja nicht und hatten auch an den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Tolanern nicht teilgenommen.
Sie fanden, dass der König der Tolaner ein gutaussehender Mann war, der Dinge gesagt hatte, die das Herz eines jeden Nigren erfreuten.
Einige gaben ihm ihre Hand uns klopften ihm sogar auf die Schulter.
Dazu konnte sich Brando nicht bereiterklären, aber er gehörte durchaus zu denen, die ein Ende des völlig zerrütteten Verhältnisses zwischen Tolanern und Nigren begrüßten und auch Shirin war da auf seiner Seite.
Ihre Söhne hatten ohnehin nichts mit der Feindschaft zu den Tolanern im Sinn, sie kannten sie ja nur vom Hörensagen und waren gespannt darauf, jetzt einmal welche von ihnen kennenzulernen.
Inzwischen war Aatu beinahe allen Nigren wohlgesonnen, sie sahen in ihm den Erlöser von der Drangsal, die sie während der letzten Jahre in Gudon erdulden mussten.
„Morgen werden für Gudon Fertighäuser angeliefert und unsere Maschinen erscheinen, mit denen Eure Straßen wieder repariert werden!“, rief Aatu und seine letzten Worte gingen beinahe im Geheul der Menge unter.
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