Hans Müller-Jüngst
Morde und Leben - Kortner und Schneider
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Inhaltsverzeichnis
Titel Hans Müller-Jüngst Morde und Leben - Kortner und Schneider Dieses ebook wurde erstellt bei
Annabelle Memmerts Tod
Ein weiterer Mord
Mord an Familie Steffens
London
Firma Shakleton
Feldstadt
Konya
Sizma
Kusadasi
Konya II
Bodrum
Turgut
Istanbul
Wieder zu Hause
Impressum neobooks
Annabelle ließ sich auf ihrem Rabeneick-Fahrrad den Hang zwischen den Maisfeldern hinabtreiben, um nach Selldorf zu kommen, sie lebte in Selldorf bei ihren Eltern und war dort geboren. Sie kam aus Schüttbach, einem sechs Kilometer entfernten Ort, in dem ihre gute Tante Lise lebte, die immer ein offenes Ohr für sie hatte, und mit der Annabelle sehr gerne plauderte. Tante Lise war etwas älter als Annabelles Vater, sie war ein herber Typ, strahlte aber Wärme aus, Annabelle hatte bei ihr ein Glas Wasser getrunken und sich mit ihr über ihren Vater unterhalten.
Annabelle war nunmehr auf dem Rückweg, sie trug ein mattgrünes wadenlanges Leinenkleid, ihre starken Haare waren zu Zöpfen verflochten, die im Fahrtwind taumelten. Sie hatte das feste Haar von ihrem Vater, das Haar ihrer Mutter war dunkel und schütter, Annabelle hatte ihre Mutter deswegen einige Male gehänselt, weil sich mit ihrem Haar so gar nichts anfangen ließ. Sie genoss ihr Leben, sie war gerade achtzehn Jahre alt und in der letzten Klasse des Gymnasiums in Feldstadt, der nächsten größeren Stadt in der Umgebung von Selldorf. Sie war ein begehrtes Mädchen bei den Jungen, aber Annabelle hielt sich alle vom Leib, sie wollte noch keine feste Beziehung eingehen und hatte auch noch ihre Jungfräulichkeit. Ihre Freundinnen prahlten zum Teil damit, dass sie ihre Jungfräulichkeit längst verloren hätten, Annabelle machte sich nichts daraus, sie vertraute darauf, dass der Tag für sie schon noch käme, wenn sie den Richtigen fände, mit dem sie schliefe. Außerdem verlieh ihr ihre Ungebundenheit eine nicht näher zu beschreibende Leichtigkeit, eine Beschwingtheit, um die sie viele beneideten. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin, ihr Lieblingsfach am Gymnasium war Deutsch, sie verstand es, mit literarischen Texten umzugehen wie kein Zweiter und verblüffte ihren Deutschlehrer regelmäßig mit Textinterpretationen, die ihrer eigenwilligen Auslegung entstammten, die aber in sich stimmig waren und die Textzusammenhänge und die Personenbeschreibungen angemessen beleuchteten.
Annabelle war eine emsige Leserin und bediente sich laufend aus dem reichhaltig bestückten Bücherschrank ihrer Eltern, oder sie ging in die, allerdings spärlich ausgestattete Leihbücherei im Dorf, in der es nur die üblichen Kitschklassiker ab, in der man aber anspruchsvolle Literatur bestellen konnte. Auch das war an ihr untypisch für das Verhalten eines Teenagers, während sich ihre Freundinnen mit ihren Freunden vergnügten und mit ihnen nach Feldstadt in die Disco fuhren, setzte sich Annabelle hin und las. Sie hatte nie dabei das Gefühl, etwas zu versäumen, sondern im Gegenteil immer einen Gewinn an Erfahrung davonzutragen. Als Annabelle in die letzte Linkskurve des Hanges nach Selldorf einschwenkte und sie mit viel Schwung nahm, gab es mit einem Mal einen fürchterlichen Schlag, Annabelle wurde von ihrem Rad gerissen und fiel auf die Straße, ihr Genick war gebrochen, sie war sofort tot. Sie lag in einer verrenkten Haltung auf dem Asphalt, ihr Kopf war widernatürlich nach hinten überdehnt, ihr Leinenkleid war über ihre Knie gerutscht und ihre weiße Unterhose wurde von der Sonne beschienen. Als Frau Schettner in ihrem Auto nach Feldstadt unterwegs war, um dort Einkäufe zu erledigen, fand sie Annabelle in der verrenkten Haltung auf der Straße liegen, sie kannte das Mädchen gut, denn sie war eine Nachbarin von ihr. Sie sah gleich, dass Annabelle tot war und war entsetzt, sie hatte Annabelle immer gemocht, weil sie so natürlich war und so viel Heiterkeit ausgestrahlt hatte.
Frau Schettner beugte sich zu Annabelle hinunter und zog deren Kleid wieder herab, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, sah sie den Draht, der in Kopfhöhe eines erwachsenen Radfahrers über die Straße gespannt war, vermutlich wäre sie mit dem Wagen dagegen gefahren, hätte sie nicht wegen des toten Mädchens angehalten. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und wählte die Nummer der Polizei, es meldete sich die Polizei in Feldstadt und Frau Schettner berichtete von dem schrecklichen Unglücksfall, der sich auf der Landstraße zwischen Schüttbach und Selldorf, kurz vor der Ortseinfahrt nach Selldorf, zugetragen hatte. Anschließend rief sie bei Memmerts an, der Familie von Annabelle und beide Elternteile kamen gleich zum Unglücksort, Frau Memmert warf sich auf ihre tote Tochter und schrie, sie schrie den Namen ihres Kindes, immer wieder, doch ihre Tochter war tot. Herr Memmert weinte ebenfalls, er nahm seine Frau hoch und drückte sie an sich, unfähig, auch nur einen Ton von sich zu geben, während seine Frau mit Schreien fortfuhr, so standen sie neben ihrer Tochter, als die Polizei eintraf, die gleich den Notarztwagen mitgebracht hatte. Frau Schettner stand vor dem gespannten Draht, den Tränen nahe und sagte den Beamten:
„Fahren Sie nicht vor den Draht!“, sie gab sich als die Anruferin zu erkennen. Der Notarzt nahm sich gleich des Mädchens an, konnte aber nur dessen Tod feststellen, er sah die Beamten an und schüttelte mit dem Kopf, um ihnen das Ergebnis seiner Schnelluntersuchung zu verstehen zu geben. Der Notarzt veranlasste, dass Annabelle auf eine Bahre gelegt und in den Notarztwagen geschoben wurde. Frau Memmert, immer noch völlig außer sich, versuchte, ihre Tochter zu umklammern und so den Abtransport ihres Kindes zu verhindern, und nur mit sanfter Gewalt konnten Rettungssanitäter sie zurück in die Arme ihres Mannes führen, wo sie hemmungslos weinte, fast brach sie in sich zusammen. Die Polizeibeamten widmeten sich dem quer über die Straße gespannten Draht und fanden einen ganz einfachen glatten Draht vor, zwei Millimeter dick, wie er in dieser Form an allen Weidezäunen zu finden war. Inzwischen stand eine Reihe von Autos an der Unfallstelle und sie konnte sich erst wieder in Bewegung setzen, wenn die Polizei die Straße wieder freigegeben hätte. Die Beamten fotografierten die besondere Art der Drahtbefestigung an zwei gegenüberliegenden Birkenstämmen, es war eine Befestigungsart, wie sie von Bauern an ihren Weidezäunen praktiziert wurde.
Der Draht war zweimal um die Birke gelegt, mit dem kurzen Ende um den Zulauf gewickelt und mit einer Zange verzwirbelt. Die Polizisten entfernten den Draht wieder aus seiner Baumbefestigung und gaben den Verkehr frei. Sie hatten die KTU nicht gerufen, weil es mit Ausnahme des Drahtes und des Fahrrades, keine Spuren gab, das Fahrrad stand an eine der Birken gelehnt, Annabelles Vater hatte es dorthin gestellt.
Die Beamten sagten Annabelles Eltern:
„Ihre Tochter wird zur Gerichtsmedizin gefahren, Morgen bekommen sie Besuch von der Kriminalpolizei, die ihnen mehr Auskünfte erteilen und einige Fragen stellen wird.“ Frau Schettner war eine gutmütige und mittelalte Frau, ihr Mann war vor vier Jahren an Lungenkrebs gestorben und sie lebte seitdem von einer sehr schmalen Witwenrente, sie war gut gekleidet, weil sie doch ursprünglich in die Stadt fahren wollte. Sie kümmerte sich um Annabelles Eltern, die beide erst Anfang vierzig waren und deren einziges Kind ihre Tochter gewesen war. Sie setzte die beiden in ihren Wagen und fuhr mit ihnen zu sich, sie würde später das Fahrrad ud Memmerts Wagen holen. Alle tappten völlig im Dunkeln, was die Ermordung Annabelles anbelangte, die Polizei würde mit ihren Untersuchungen im Wohnumfeld Annabelles anfangen und danach zu ihrer Schule fahren, um ihre Klassenkameraden und ihre Lehrer zu befragen. Frau Schettner kochte bei sich Kaffee und gab Frau Memmert ein Stück Küchenrolle, damit sie ihre Tränen damit abwischen konnte. Sie forderte die Memmerts auf, auch von ihrem Kaffee zu trinken und die beiden taten sich sehr schwer damit, ihre Fassung wiederzuerlangen und an ihren Tassen zu nippen. Die Nachricht von Annabelles Tod hatte sich in Windeseile im Dorf herumgesprochen, alle sprachen den beiden Memmerts ihr Beileid aus, manche weinten mit Frau Memmert und drückten sie, sie alle hatten Annabelle gemocht, ihre offene und immer nette Art, davon war jeder angetan.
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