„Wo soll Benjamin schon gewesen sein?“, fragte sein Vater dazwischen, „er ist natürlich zu Hause gewesen, was soll denn diese Fragerei überhaupt?“
Benjamin machte einen leicht vernachlässigten Eindruck, er trug abgewetzte Kleidung und kaputte Schuhe, an beiden schaute an der Seite der kleine Zeh heraus, was ihm aber nichts auszumachen schien, er war zufrieden, und man konnte glauben, dass er trotz seiner Behinderung glücklich war. Die Polizisten klärten Bauer Steffens über die Ermordung von Annabelle Memmert auf, aber Bauer Steffens sagte:
„Ich bin längst informiert, die Nachricht hat sich am Vortag im Nu herumgesprochen. Ich kann nur nicht verstehen, dass Sie Benjamin im Verdacht haben, er ist doch zu so einem Mord, zu dessen Durchführung einiges an taktischem Geschick gehört, gar nicht fähig.“ Der Mörder hätte doch den Draht unmittelbar vor Annabelles Eintreffen an der Stelle ihrer Ermordung spannen müssen, das hätte Benjamin nie zu Wege gebracht, er bezweifelte sogar, dass Benjamin überhaupt einen Draht hätte spannen können. Sein Gesicht verzog sich zu fragendem Schauen und er fragte KHK Kortner und KOK Schneider, als erwartete er eine spontane Antwort, die Beamten entgegneten aber nur, dass sie jeder Spur nachzugehen hätten und schließlich wäre Benjamin ja ein Mörder. Als er das hörte, wurde Bauer Steffens zornig und er war drauf und dran, die Polizisten von seinem Hof zu werfen, er beherrschte sich aber und schwieg. Benjamin lächelte, aber der Grad seiner geistigen Behinderung war so stark, dass er nicht verstehen konnte, worüber die Männer sprachen.
KHK Kortner war ein umgänglicher Mensch, was ihm jeder aus seiner Umgebung bestätigte, er kam jedenfalls mit fast allen gut aus, mit denen er zu tun hatte. Von Anbeginn an war er gerne Polizist, er war auch gerne zur Polizeischule gegangen und hatte mit seinen jungen Kollegen gelernt. Beinahe wäre ihm der Dienst bei der Polizei verwehrt geblieben, als er das Sportabzeichen nicht zu bekommen drohte, denn zum Sportabzeichen gehörte es, dass man fünfzehn Meter weit tauchte und das konnte er anfangs nicht. Er konnte schon sehr früh schwimmen, aber das Tauchen ist ihm nie beigebracht worden und er ging so lange ins Schwimmbad und übte das Tauchen, bis er die fünfzehn Meter schaffte. Das war die Zeit, als er seine Frau kennen gelernt hatte, sie heirateten sehr bald und zogen in ihr Haus in Feldstadt, noch bevor die Kinder kamen. Sie hatten zu Beginn an der Hypothek ganz schön zu stemmen und mussten sich etwas einschränken, mit den beiden Einkommen aus dem Polizeidienst und der Grundschullehrerinnentätigkeit seiner Frau ging das aber. Als die beiden Söhne auf die Welt gekommen waren, wurden die Karten neu gemischt und alles lief seinen vorherbestimmten Gang. Mit den Jahren veränderte sich KHK Kortner sehr, er verlor seine Haare bis er nur noch ein Kränzchen hatte und legte mächtig an Gewicht zu, von dem ehemaligen sportlichen Typen war am Ende nicht viel übrig geblieben, er behielt aber seine ruhige Art und seine Umgänglichkeit. Politisch war er immer ein sehr interessierter Mensch, hatte sich aber nie irgendwo engagiert. Sein Dienst war manchmal hart, aber das nahm er gern in Kauf, dafür wurde ihm Abwechslungsreichtum geboten und es wurde ihm nie langweilig.
KOK Schneider war einige Jahre jünger als sein Kollege, er stammte aus Süddeutschland und hatte sich nach Nordrhein-Westfalen versetzen lassen, er arbeitete seit zehn Jahren mit KHK Kortner in der Mordabteilung zusammen. Auch er war sehr gern Polizist und hatte die Polizeischule mit Bravour geschafft, ihm hatte aber irgendwann die süddeutsche Mentalität nicht mehr zugesagt, und so kam er nach Feldstadt, wo er seine spätere Frau kennen lernte und kurze Zeit später heiratete. Sie hatten zusammen eine Tochter, Eva-Lisa, die manchmal anstrengend sein konnte, aber sie mochten sie über alles. Sie hatten sich schnell in Feldstadt ein Reihenhaus gekauft, dessen Finanzierung keine Probleme bereitete, weil Frau Schneider von zu Hause aus Geld mit in die Ehe gebracht hatte. Im laufe der Jahre hatte auch KOK Schneider sein Äußeres verändert und war, genau wie KHK Kortner, dicker geworden und hatte Haare verloren, er scherte sich aber nicht darum und fühlte sich in seiner Haut sehr wohl. Politisch waren seine Frau und er sehr interessiert und Eva-Lisa drängte sie beide immer, sich zu engagieren und für die Armen Partei zu ergreifen. Aber ein solches Engagement ging beiden zu weit, was ihnen schon einmal üble Beschimpfungen durch ihre Tochter einbrachte.
In diesem Moment kam aus dem schäbigen Wohnhaus eine Frau in einem Kittel, von der man nicht sagen konnte, ob sie die Gattin oder die Mutter von Bauer Steffens war, so alt und verlebt sah sie aus. Ihr Kittel war, so wie er aussah, wohl seit Tagen nicht gewaschen worden, sie trug eine braune Helanca-Hose darunter, dazu hatte sie vollkommen ausgetretene Hausschuhe an den Füßen. Sie begrüßte die beiden Polizisten mit einer sehr oberflächlichen Geste und ließ sie spüren, dass sie nicht willkommen waren, was den beiden nicht entging, sie machten sich aber nichts daraus, sie waren solche unfreundlichen Begegnungen aus der langen Zeit ihrer Befragungspraxis gewohnt. Sie sagten Frau Steffens, warum sie da wären, und dass sie Benjamin ein paar Frage gestellt hätten, woraufhin sie völlig die Fassung verlor und wieder im Haus verschwand. „Hört man denn nie auf, an meinem Jungen herumzumachen?“, rief sie im Hineingehen aus. KHK Kortner und KOK Schneider beendeten ihre Befragung, sie hatten gemerkt, dass Benjamin als Täter nicht in Frage kam, der arme Junge wäre gar nicht in der Lage gewesen, einen solchen Mord auszuführen. Sie zeigten am Schluss Bauer Steffens noch ein Stück von dem Draht, den sie mitgebracht hatten, der von dem Draht stammte, der über die Straße gespannt worden war, und sie fragten ihn nach seiner Meinung dazu. Der sah sich den Draht an und meinte nur lapidar, dass es sich dabei um Draht handele, wie er überall zum Einfassen von Weiden benutzt würde, er selbst hätte davon eine Rolle in der Scheune hängen und er ging mit den Beamten dorthin, um ihnen die Rolle zu zeigen.
Neben dem Scheuneneingang rechts hing an der Wand die Drahtrolle neben Sicheln und Sensen, es war der gleiche Draht wie der, den die Beamten in ihren Händen hielten. An der Rolle war nichts Auffälliges, es gab keine frische Schnittstelle, wie sich KHK Kortner überzeugte, der Draht war an seinem Ende verrostet. Daraufhin verabschiedeten sich die beiden von Benjamin und Bauer Steffens und gaben ihnen die Hand, Benjamin lächelte unentwegt, man hätte meinen können, dass er unendlich glücklich wäre, wenn er nur nicht seine Behinderung gehabt hätte. Bauer Steffens grummelte zum Abschied ein paar unverständliche Worte in sich hinein, bevor er sich wieder an seinen Traktor machte, er nahm einen großen Schraubenschlüssel zur Hand und beugte sich über den Motorraum. KHK Kortner und KOK Schneider gingen zu ihrem Wagen und fuhren vom Hof, sie kamen an dem drallen Fleckvieh vorbei, die Kühe schauten hoch und zerkauten das Gras. Die beiden Polizisten besprachen ihr denkwürdiges Zusammentreffen mit Familie Steffens, sie waren von Benjamin ganz angetan und wunderten sich über dessen Ausgeglichenheit, die beiden grantigen Alten fanden sie sehr unfreundlich, meinten aber, dass sie mit ihrem Sohn geschlagen wären.
Sie beschlossen, nach Feldstadt zum Schwimmbad zu fahren und dort den Schwimmmeister nach Miriam und Annabelle zu fragen, vielleicht bekämen sie einen Anhaltspunkt für ihre weiteren Untersuchungen. Als sie die Stadtgrenze nach Feldstadt überfuhren, setzte Regen ein und sie sahen die Menschen über die Bürgersteige huschen und Unterstellmöglichkeiten suchen, es hatte lange nicht geregnet, und niemand hatte wohl damit gerechnet, denn Schirme sah man kaum. Das Schwimmbad lag in unmittelbarer Nähe zum Polizeipräsidium und KHK Kortner und KOK Schneider beschlossen, anschließend dort vorbeizuschauen und zu besprechen, wie weit sie im Mordfall Annabelle waren. Sie parkten vor dem Haupteingang des Schwimmbades, der ein Backsteinportal war, das Schwimmbad war schon alt. Der Kassenbereich war vollkommen umgestaltet und auch die Fliesen im Eingangsbereich waren erneuert worden, der Weg zu den Umkleidekabinen war aber der Alte geblieben, und die beiden Polizisten gingen, nachdem sie an der Kasse ihren Dienstausweis gezeigt hatten, zur Schwimmhalle. Dort musste KHK Kortner feststellen, dass es einige bauliche Veränderungen gegeben hatte, dort gab es riesige Fenster, die das Licht hereinließen, wo früher nur kleine Luken in der Wand saßen, es gab einen Dreimeter-Turm und der Beckenrand lag auf der Höhe der Wasseroberfläche. Die Kabine des Schwimmmeisters war aber an der alten Stelle geblieben und die beiden Polizisten gingen hinüber, sie hatten vorher in der Umkleide ihre Schuhe ausgezogen, erregten aber in ihrer Bekleidung die Beachtung durch die Badegäste und auch der Schwimmmeister schaute verdutzt, als sie auf seine Kabine zugelaufen kamen.
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