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In § 79 BVerfGG sind die weiteren Folgen für rechtskräftige Strafurteile und die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung geregelt. Probleme gibt es jedoch bei der Rückabwicklung von Verträgen, Willenserklärungen und Realakten, die auf dem nichtigen Gesetz basieren. Diese sind dann zwar rechtswidrig, die Nichtigkeit des Gesetzes führt aber nicht zwingend und automatisch zur Rückabwicklung oder Unwirksamkeit dieser Rechtsakte. In solchen Fällen kommen die Grundsätze von Treu und Glauben, der Vertrauensschutz oder die Figur der unzulässigen Rechtsausübung zum Tragen.[30] Damit wird eine Norm so lange als gültig angesehen, bis sie Wirkungen im Rechtsverkehr entfaltet.[31] Weiterhin besteht die Möglichkeit der „Verfassungswidrigkeitserklärung“ (Unvereinbarkeitserklärung), die dazu führt, dass die Vorschrift lediglich nicht mehr anwendbar ist. Eine solche Entscheidung erfolgt häufig bei einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz. Der Gesetzgeber muss dabei eine freie Gestaltungsmöglichkeit haben, um diesen Zustand zu beseitigen.[32] Eine weitere Entscheidungsform ist die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Neuregelung innerhalb einer angemessenen Frist. Das BVerfG sieht dann vom Ausspruch der Nichtigkeit oder der Verfassungswidrigkeit ab.[33] Der Hauptanwendungsfall ist ein verfassungswidriger Zustand, der aber im Fall einer Nichtigkeitserklärung einen noch unerträglicheren Zustand schaffen würde, indem überhaupt keine Regelung existiert.[34] Der Prüfungsmaßstab des BVerfG hängt von der zu überprüfenden Norm ab. Handelt es sich dabei um Bundesrecht, so ist das gesamte Grundgesetz Prüfungsgegenstand. Landesrecht wird auch an Bundesrecht geprüft.
Der Antrag ist begründet, wenn die zu überprüfende Norm formell und/oder materiell gegen das Grundgesetz oder sonstiges Bundesrecht (für den Fall des Landesrechts) verstößt.
2. Formelle Verfassungsmäßigkeit
Die formelle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ist gegeben, wenn das Bundesland X für den Erlass des Gesetzes zuständig war und das Gesetz in einem ordnungsgemäßen Verfahren zustande kam.
a) Gesetzgebungskompetenz (Zuständigkeit)
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Nach dem Grundsatz des Art. 70 I GG haben die Länder das Recht der Gesetzgebung, soweit nicht dem Bunde durch das Grundgesetz Gesetzgebungsbefugnisse verliehen werden. Steht dem Bund daher nach den Art. 71 ff. GG nicht die Gesetzgebungskompetenz zu, sind die Länder zuständig. Vorliegend ist keine ausschließliche Kompetenz des Bundes gem. Art. 71, 73 GG ersichtlich. Aus dem Katalog der Gegenstände konkurrierender Gesetzgebung gem. Art. 74 GG ergibt sich ebenfalls kein Kompetenztitel. Das Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern im Bereich der Bildungsplanung nach Art. 91b GG ist im vorliegenden Fall nicht betroffen. Folglich verbleibt es bei der Grundregel des Art. 70 I GG und die Gesetzgebungskompetenz über das Schulwesen obliegt ausschließlich den Ländern.[35] Das Bundesland X war somit für den Erlass des Gesetzes zuständig.
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Mangels gegenteiliger Sachverhaltsangaben sind Verfahren und Form eingehalten worden.
3. Materielle Verfassungsmäßigkeit
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Die Bundesregierung bezweifelt die materielle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zur Schulleiterwahl. Möglicherweise liegt hier ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip vor.
Hinweis:
Werden mehrere Vorschriften eines Gesetzes im Sachverhalt angegeben – wie hier – empfiehlt es sich, diese getrennt zu untersuchen.
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§ 3 des Gesetzes zur Schulleiterwahl ermöglicht der Schulversammlung, den Schulleiter zu wählen. Die Zielsetzung dieses Gesetzes ist die Förderung demokratischer Mitbestimmung der an der jeweiligen Institution Betroffenen. Der Schulleiter ebenso wie die Lehrerschaft sind Beamte oder Angestellte des Staates und werden in dieser Funktion vom jeweiligen Bundesland ernannt. In diesem Zusammenhang ist fraglich, ob dieses Vorgehen an staatlichen Schulen mit dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes vereinbar ist.
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Das Demokratieprinzip ist verfassungsrechtlich in Art. 20 I, II GG verankert und auf Grund der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG einer Änderung entzogen. Über die Homogenitätsklausel des Art. 28 I 1 GG sind auch die einzelnen Bundesländer der demokratischen Grundordnung verpflichtet. Eine normative Konkretisierung erfährt das Demokratieprinzip in Art. 20 II GG.
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Exkurs
Der Begriff der Demokratie bedeutet Volksherrschaft, also Souveränität des Volkes.[36] Daraus folgt jedoch nicht, dass das Volk alle Entscheidungen selbst basisdemokratisch treffen kann. Vielmehr handelt es durch besondere Organe der drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) und nimmt mittels Abstimmungen und Wahlen auf die Entscheidungsprozesse Einfluss (repräsentative Demokratie).[37]
Darauf basiert die demokratische Legitimation, wonach jegliche Ausübung staatlicher Gewalt durch die Staatsorgane ihren Ursprung, ihre Rechtfertigung und Begründung beim Volk[38] hat („vom Volke ausgeht“, Art. 20 II GG), nicht etwa von transzendenten oder selbstinstallierten Mächten. Das entscheidende Element demokratischer Legitimation ist die Zurückführung der Herrschaftsmacht auf das Volk. Gleichzeitig sichert sie den Einfluss des Volkes gegenüber den handelnden Staatsorganen bei der Ausübung der Staatsgewalt.[39] Dies geschieht durch Wahlen. Zu differenzieren ist dabei zwischen der unmittelbaren und der mittelbaren Legitimation. Der Bundestag wird unmittelbar durch Wahlen nach Art. 39 I 1 GG legitimiert, während die anderen Bundesorgane des Art. 20 II 2 GG nur mittelbar (über den Bundestag) legitimiert werden. Es entsteht eine Legitimationskette, die ihren Ursprung beim Bundestag und somit wiederum beim Volk hat. Die demokratische Legitimation im staatsrechtlichen Sinne besteht aus zwei Komponenten – der Legitimationskette und der demokratischen Verantwortlichkeit (Rückbindung).[40] Erstere steht für den lückenlosen Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft.[41] Dies erfolgt im Bereich der Exekutive durch die Wahl des Parlaments, den Erlass von Gesetzen und die Bestellung von Amtsträgern.[42] Die zweite Komponente ist die Rückbindung an das Volk durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung, die Verantwortlichkeit der Regierung vor dem Parlament und letztlich die Verantwortlichkeit des Parlaments vor dem Volk im nächsten Wahlakt.[43] Die Legitimationskette gilt nicht nur auf Bundesebene, sondern über die Homogenitätsklausel des Art. 28 I GG auch auf Landesebene.
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Nach dem Wortlaut des Art. 20 II GG ist allein das Volk Träger demokratischer Legitimation. Die Wahl des Schulleiters würde dem Gesetz zufolge durch die Schulversammlung erfolgen. Ob dieses Gremium eine ausreichende Legitimation bietet, ist eine Frage der Definition des Begriffes „Volk“ in Art. 20 II 1 GG.
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Das Staatsvolk umfasst die Gesamtheit aller deutschen Staatsangehörigen (Art. 116 GG),[44] die einen Verband dauerhaft miteinander und mit dem Staat verbundener Personen darstellen.[45] Dieses Gesamtvolk ist unteilbarer Träger der demokratischen Legitimation.[46] Eine Legitimation, die von einer Mehrzahl von Menschen, einer bestimmten Gruppe von Menschen („Teilvölkern“ bzw. Volksteilen) oder von Verbänden ausgeht, ist nicht ausreichend.[47] Eine Demokratie (nur) der Betroffenen oder Unterworfenen gibt es nicht.[48] Größere Gruppen können zwar eine „Stimmmacht“ haben, sind aber dennoch nicht durch die Gesamtheit der Bürger legitimiert. Dies gilt prinzipiell auch im Bereich der Gemeinden, auch deren Organe werden durch die Gesamtheit der Gemeindebürger legitimiert. Auf diese Ebene projiziert, bilden die Gemeindebürger das Gesamtvolk, das gem. Art. 28 I 2 GG eine kommunale Vertretung wählt; auf Bundesebene sind sie daher auch als „Volksteil“ zur Legitimation berechtigt. Insoweit trifft Art. 28 I 2 GG eine nicht auf kleinere Gruppen von Staatsbürgern übertragbare Sonderregelung, die dem „Volk“ auf Gemeinde- oder Kreisebene eine eigene Legitimation verleiht.[49] Nach Art. 28 I 3 GG sind auch Unionsbürger auf Gemeindeebene wahlberechtigt und wählbar, gehören mithin zum Gemeindevolk. Diese Bestimmung geht auf Art. 22 I AEUV i.V.m. der Richtlinie 94/80/EG des Rates vom 19.12.1994 zurück. Danach steht jedem Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht zu. Die „Staatsgewalt“ ist der ureigene Gegenstand der demokratischen Legitimation. Sie ist neben Staatsgebiet und Staatsvolk ein Bestandteil der „Drei-Elemente-Lehre“ nach Jellinek. Inhaltlich umfasst die Staatsgewalt alle dem Staat zuzurechnenden Handlungen, die verbindlichen Entscheidungscharakter haben.[50]
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