Für den Antrag eines Viertels der Mitglieder des Bundestages ist zu beachten, dass hierbei auf die Zahl der Abgeordneten in der Legislaturperiode abzustellen ist. Der Antrag auch einer Fraktion, die nicht ein Viertel der Mitglieder umfasst, ist für die Antragsberechtigung nicht ausreichend.[6]
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Der Antragsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle umfasst Rechtssätze aller Art. Dazu gehören Rechtsverordnungen und Satzungen des Bundesrechts und des Landesrechts, formelle Gesetze und Verfassungsrecht. Art. 79 III GG hält Maßstäbe für verfassungsändernde Gesetze bereit, weshalb diese ebenfalls als Prüfungsgegenstand in Betracht kommen.[7] Da die abstrakte Normenkontrolle grundsätzlich eine repressiv und keine präventive Normenkontrolle ist, muss ein Gesetz i.S.d. Art. 93 I Nr. 2 GG bereits rechtlich existent, d.h. gem. Art. 82 I GG ausgefertigt und verkündet worden, jedoch noch nicht in Kraft getreten sein.[8] Im Gegenzug ist auch ein außer Kraft getretenes Gesetz tauglicher Prüfungsgegenstand, solange es noch Rechtswirkungen entfaltet. Anders als bei der konkreten Normenkontrolle ist die Prüfung nicht auf formelles, nachkonstitutionelles Recht beschränkt.[9]
Im vorliegenden Fall handelt es sich um ein formelles Gesetz nach Landesrecht, das bereits verkündet worden ist; es ist also tauglicher Prüfungsgegenstand.
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Exkurs
Eine Ausnahme zur generellen Absage an eine präventive Normenkontrolle lässt das BVerfG allerdings bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen und EU-Verträgen gem. Art. 59 II, 23 I 2, 3 GG (Vertragsgesetzen) zu.[10] Diese seien bereits vor Ausfertigung und Verkündung überprüfbar, um ein Auseinanderfallen völkerrechtlicher Vertragspflichten und verfassungsrechtlicher Bindungen zu vermeiden.[11] Bei Zustimmungsgesetzen zu völkerrechtlichen und EU-Verträgen tritt eine besondere vertragliche Bindung ein, die selbst durch eine Nichtigerklärung des Zustimmungsgesetzes nicht aufgehoben werden könnte.[12] Dies hat praktische Gründe. Könnten die völkerrechtlichen Verträge nachträglich zu Fall gebracht werden, dann wäre die Europäische Union handlungsunfähig. Gleichzeitig ist aber damit gesagt, dass völkerrechtliche Verträge und primäres Unionsrecht mittelbar, über die entsprechenden Zustimmungsgesetze als Bundesrecht, geeignete Prüfungsgegenstände einer Normenkontrolle sind (vgl. Art. 23, 24 I, 59 II GG).[13] Denn das entscheidende Kriterium für einen zulässigen Gegenstand der Normenkontrolle ist die Form der Rechtssätze und nicht deren Inhalt.[14] Im Gegensatz dazu scheiden Rechtsakte des Unionsgesetzgebers (namentlich sekundäres Unionsrecht) als Prüfungsgegenstand aus, da es sich hierbei nicht um bundes- oder landesrechtliche Normen handelt, sondern um eine vom deutschen Recht zu unterscheidende Rechtsordnung.[15] Grundsätzlich überprüfbar sind aber wiederum die Normsetzungsakte von Bund oder Ländern zur Umsetzung des sekundären Unionsrechts in innerstaatliches Recht, jedenfalls soweit den deutschen Normsetzern diesbezüglich ein Gestaltungsspielraum eingeräumt ist.[16] Problematisch ist dabei, dass das BVerfG seine Prüfungskompetenz unbefugter Weise über die des EuGH stellt und damit Unionsrecht überprüfen würde.[17] Gemäß seiner „Solange-Rechtsprechung“[18] macht das BVerfG jedoch von seiner Prüfungskompetenz am Maßstab der deutschen Grundrechte „solange“ keinen Gebrauch, wie der Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährleistet wird. Darüber hinaus behält sich das BVerfG vor, Unionsrecht aufzuheben, sofern es in eindeutigem Widerspruch zum GG steht (sog. „ausbrechende Hoheitsakte“).[19] Dies geschieht zum einen i.R.d. ultra-vires-Kontrolle, wenn die Union offenkundig kompetenzwidrig handelt.[20] Zum anderen kann eine sog. Identitätskontrolle erfolgen, wobei das BVerfG prüft, ob durch einen Unionsrechtsakt die nach Art. 79 III GG unantastbare Verfassungsidentität verletzt wird.[21]
4. Antragsgrund („Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“)[22]
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Nach dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 2 GG sind Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die Verfassungsmäßigkeit/Bundesrechtsmäßigkeit erforderlich. Nach § 76 I Nr. 1 BVerfGG wird jedoch ein „für nichtig Halten“ vorausgesetzt. Zudem fasst § 76 BVerfGG die Antragsvoraussetzungen noch enger, indem er auf das Dafürhalten des Antragstellers selbst abstellt. Damit stellt sich die Frage, welchen Kriterien zu folgen ist. Dieser Streit ist zugunsten des Art. 93 I Nr. 2 GG zu entscheiden. Zum einen ist es bereits zweifelhaft, ob eine einfachgesetzliche Norm Verfassungsrecht einschränken kann, zum anderen hat das BVerfG dahingehend entschieden, dass Art. 93 I Nr. 2 GG durch § 76 I BVerfGG lediglich konkretisiert wird und eine Bestätigung des Klarstellungsinteresses sei.[23] Gleiches gilt im Übrigen auch für das Normbestätigungsverfahren des § 76 I Nr. 2 BVerfGG.[24]
Die Zweifel der Bundesregierung hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sind daher als Antragsgrund ausreichend.
5. Objektives Klarstellungsinteresse
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Das Klarstellungsinteresse ist eine vom BVerfG entwickelte ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung[25] und nicht mit einer etwaigen Antragsbefugnis zu verwechseln. Der Antragsteller muss keine subjektive Rechtsverletzung geltend machen, da es sich um ein objektives Beanstandungsverfahren handelt. Das objektive Klarstellungsinteresse wird grundsätzlich durch bestehende Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel indiziert. Es fehlt nur dann, wenn eine Norm bereits außer Kraft getreten ist und keinerlei Rechtswirkungen mehr entfaltet.[26] Ist eine Norm bereits vor einem Landesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden, ist ein Klarstellungsinteresse abzulehnen. Umstritten ist letztlich der Fall, in dem von einem landesrechtlichen Rechtsbehelf kein Gebrauch gemacht wurde. Bei untergesetzlichem Landesrecht besteht die Möglichkeit der Normenkontrolle nach § 47 VwGO. Diesbezüglich ist eine Entscheidung in beide Richtungen möglich. Einerseits wird mit der Subsidiarität der abstrakten Normenkontrolle argumentiert. Dem wird jedoch entgegengehalten, dass die Prüfungsmaßstäbe von Landesverfassungsgericht und BVerfG verschieden sind und daher keine gegenseitige „Sperrwirkung“ einsetzt.[27]
Die Bundesregierung musste hier keinen landesverfassungsrechtlichen Rechtsbehelf einlegen. Das Gesetz ist weiterhin rechtswirksam. Somit ist das Klarstellungsinteresse gegeben.
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Die Schriftform bestimmt sich nach der allgemeinen Vorschrift des § 23 BVerfGG. Mangels entgegenstehender Sachverhaltsangaben sind diese Voraussetzungen als erfüllt zu betrachten. Eine Frist ist – anders als bei der Verfassungsbeschwerde, dem Organstreit und dem Bund-Länder-Streit – bei der abstrakten Normenkontrolle nicht einzuhalten.
Der Antrag im abstrakten Normenkontrollverfahren ist zulässig.
III. Begründetheit
1. Entscheidung des BVerfG und Prüfungsmaßstab
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Das BVerfG erklärt das Gesetz, sofern der Antrag begründet ist, gem. § 78 S. 1 BVerfGG für nichtig. Ist das Gesetz nur punktuell nichtig und im Übrigen verfassungsgemäß, kann auch nur ein Teil des Gesetzes für nichtig erklärt werden. Die Nichtigerklärung hat nach § 31 II BVerfGG Gesetzeskraft. Darüber hinaus besteht gem. § 78 S. 2 BVerfGG die Möglichkeit, weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes bei gleichem Nichtigkeitsgrund für nichtig zu erklären, obwohl diese Bestimmungen nicht explizit Gegenstand des Verfahrens waren.[28] Die Nichtigerklärung wirkt „ex tunc“, also auf den Zeitpunkt des Erlasses zurück. Damit wird sämtlichen Rechtsakten, die dieses Gesetz als Rechtsgrundlage hatten, der Boden entzogen.[29] Die Auswirkungen sind jedoch unterschiedlich geregelt:
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