1. Formelle Verfassungsmäßigkeit
a) Zuständigkeit
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Der Bund war zum Erlass des Einkommensteuer-Änderungsgesetzes zuständig (s.o.).
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Das Änderungsgesetz vom 1.6.2020 könnte aufgrund der fehlerhaften Beschlussfassung formell verfassungswidrig sein. Nach Art. 78 GG kommen Bundesgesetze durch Bundestagsbeschluss gem. Art. 77 I GG zustande. Von einer ordnungsgemäß eingebrachten Gesetzesvorlage ist auszugehen. Der Beschluss ist aber nur wirksam, wenn der Bundestag beschlussfähig ist und die Beschlussfassung ordnungsgemäß war. Die Beschlussfähigkeit bestimmt sich nach § 45 I GOBT. Demnach müssen mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend sein. Ist dies nicht der Fall, so kann der Bundestag dennoch beschlussfähig sein, wenn die Beschlussunfähigkeit nicht ausdrücklich auf Antrag einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Mitglieder festgestellt wird (§ 45 II GOBT). Grundsätzlich wird daher die Beschlussfähigkeit vermutet.[38] Vorliegend wurde jedoch die Beschlussfähigkeit zu Recht bezweifelt. In einem solchen Fall kann diese Fiktion keine Wirkung mehr entfalten, da die Beschlussfähigkeit gem. § 45 II 1 GOBT in Verbindung mit der Abstimmung festzustellen ist.[39] Gemäß § 45 III 1 GOBT hebt der Präsident nach Feststellung der Beschlussunfähigkeit die Sitzung sofort auf. Ein trotzdem gefasster Gesetzesbeschluss ist unwirksam. Daher ist das Änderungsgesetz hier formell verfassungswidrig.
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Hinweis:
Die Beschlussfassung hingegen erfolgte verfassungsgemäß. Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ist für einen Gesetzesbeschluss ausreichend. Gemäß Art. 42 II 1 GG ist diese Abstimmungsmehrheit erforderlich, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft. Entscheidend ist daher nur die Anzahl der an der Abstimmung teilnehmenden Abgeordneten.
2. Materielle Verfassungsmäßigkeit
In materieller Hinsicht stellt sich die Frage, ob das Gesetz vom 1.6.2020 auch hier gegen das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere gegen das Rückwirkungsverbot, verstößt.
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Als Abgrenzungskriterium dient wiederum, ob der Sachverhalt, in den durch die Neuregelung vom 1.6.2020 eingegriffen wird, bereits abgeschlossen ist. Bei einer echten Rückwirkung bzw. einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen müsste das Änderungsgesetz Rechtsfolgen an einen abgeschlossenen Sachverhalt knüpfen. Den steuerrelevanten Sachverhalt der Übungsleitertätigkeit hat C bis einschließlich Mai 2020 bereits ausgeführt. Deshalb könnte der Sachverhalt bereits beendet sein. Da die Einkommensteuer aber eine Jahressteuer ist (s.o.), würde dieser an sich abgeschlossene Sachverhalt von der Rückwirkung mit umfasst. Die Einkommensteuer entsteht erst am 31.12.2020, mithin endet erst zu diesem Zeitpunkt auch der Besteuerungssachverhalt für die Übungsleitertätigkeit. Die Rechtsfolge des Änderungsgesetzes tritt in dieser Konstellation am 31.12.2020 ein. Ungeachtet der Verkündung am 1.6.2020, also nach der Beendigung der Übungsleitertätigkeit, ist der Steuersachverhalt noch nicht abgeschlossen, so dass von einer unechten Rückwirkung auszugehen ist.[40] Eine unechte Rückwirkung ist im Gegensatz zur echten grundsätzlich zulässig.[41] Nach dieser Einordnung richtet sich auch der Prüfungsmaßstab.
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Der Prüfungsmaßstab bei einer unechten Rückwirkung bzw. bei einer tatbestandlichen Rückanknüpfung sind der Rechtsprechung des Zweiten Senats des BVerfG zufolge vorrangig die einschlägigen Grundrechte.[42] Zum Vergleich: Bei einer echten Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen ist die Zulässigkeit an rechtsstaatlichen Grundsätzen (Art. 20 III GG) wie dem Vertrauensschutz und der Rechtssicherheit zu messen; zu einer Grundrechtsprüfung kommt es streng genommen nicht.[43] Bei einer unechten Rückwirkung ist zu differenzieren. Diese ist grundsätzlich zulässig, unterliegt jedoch den Schranken des Vertrauensschutzes. Mittels einer Abwägung zwischen dem individuellen Vertrauensschutz und dem Wohl der Allgemeinheit wird die Verfassungsmäßigkeit festgestellt.[44] Werden Leistungs- und Teilhaberechte des Bürgers beeinträchtigt, ist dies eine Frage des Vertrauensschutzes. Die Grenzen der unechten Rückwirkung lassen sich somit unmittelbar dem Rechtsstaatsprinzip entnehmen. Anders wiederum verhält es sich, wenn in die Freiheitsrechte als Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat eingegriffen wird. Dann findet eine Abwägung des Vertrauensschutzes innerhalb der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne statt.[45] Folgt man der Rechtsprechung zur tatbestandlichen Rückanknüpfung, die nicht von einer Rückwirkung, sondern von einer Einwirkung ausgeht, dann wird das Änderungsgesetz stets auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten geprüft.[46]
aa) Maßstab der „unechten Rückwirkung“
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Nach der Rechtsprechung zur unechten Rückwirkung ist der individuelle Vertrauensschutz mit den öffentlichen Interessen abzuwägen. C hat zwar auf die Steuerfreiheit weiterhin vertraut, jedoch besteht im Bereich begünstigender Regelungen keine „Ewigkeitsgarantie“ dahingehend, dass der Staat diese Vergünstigung auch weiterhin aufrechterhalten werde.[47] Andererseits muss C auch auf den Fortbestand geltenden Rechts vertrauen dürfen, um für die Zukunft planen und disponieren zu können. Derartige Vermögensdispositionen sind im Fall des C jedoch nicht ersichtlich. Es lässt sich auch nicht darauf schließen, dass C bei Kenntnis der Neuregelung die Tätigkeit nicht ausgeübt hätte. Ihm bleibt das Entgelt für die Übungsleitertätigkeit erhalten, allerdings mit einem steuerlichen Abzug. Damit ist die rechtliche Vertrauensposition des C zwar teilweise beeinträchtigt, jedoch sind in der Abwägung auch die entgegen stehenden Interessen des Staates zu berücksichtigen. Darunter fallen u.a. konjunkturpolitische Erwägungen. Der Staat hat das Recht, bei entsprechendem Bedarf steuerliche Vergünstigungen abzubauen, um die Steuereinnahmen zu erhöhen. Der Vertrauensschutz des Bürgers geht daher nicht so weit, dass der Bestand von Steuer-Vergünstigungen die Verbesserung des Bundeshaushalts überwiegen würde. Daher ist die unechte Rückwirkung verfassungsrechtlich zulässig.
bb) Maßstab der „tatbestandlichen Rückanknüpfung“
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Nach dem Maßstab der tatbestandlichen Rückanknüpfung muss sich die Zulässigkeit an der Vereinbarkeit mit Grundrechten messen lassen. Erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist der Vertrauensschutz in der Abwägung zu berücksichtigen. Die Grundrechtsprüfung soll an dieser Stelle keinen Schwerpunkt einnehmen, jedoch wird auf die wichtigsten Besonderheiten im Zusammenhang mit Steuern eingegangen.
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Die Besteuerung der Einkünfte des C, die er bis einschließlich Mai 2020 erzielt hat, könnte einen Verstoß gegen Art. 14 GG darstellen. Dies ist der Fall, wenn der Schutzbereich des Art. 14 I GG eröffnet, ein hoheitlicher Eingriff in diesen Schutzbereich gegeben und dieser nicht verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Art. 14 I GG schützt nur vermögenswerte Rechte, nicht das Vermögen als solches,[48] und auch nicht den (steuerfreien) Erwerb oder bloße Erwerbsaussichten.[49] Somit ist bereits die Eröffnung des Schutzbereichs abzulehnen. Außerdem ist die Erhebung von Steuern und die damit einhergehende Reduzierung von Einnahmen nur ein Eingriff, wenn die Existenz des Steuerpflichtigen gefährdet werden würde.[50] Die Besteuerung der Übungsleitertätigkeit wirkt hier jedoch nicht existenzgefährdend. Folglich ist auch ein Eingriff in Art. 14 I GG abzulehnen.[51]
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In Betracht kommt weiterhin ein Verstoß gegen Art. 2 I GG, da die Steuerpflicht die allgemeine Handlungsfreiheit des Steuerpflichtigen C einschränken könnte. Die allgemeine Handlungsfreiheit umfasst als Auffanggrundrecht alle Betätigungen und Lebensbereiche, die nicht bereits in den Schutzbereich eines spezielleren Grundrechts fallen.[52] Darunter fällt auch die Einnahmenerzielung und Mittelverwendung nach Belieben des Bürgers, im weitesten Sinne die wirtschaftliche Betätigung.[53] Der Schutzbereich des Art. 2 I GG ist hier daher eröffnet.
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