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Die Verschiebung der Neuwahlen um zwei Jahre ist materiell verfassungswidrig.
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Prüfungsschema zur Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG
Art. 41 II, 93 I Nr. 5 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG
I. Zulässigkeit
1. Zuständigkeit des BVerfG, Art. 93 I Nr. 5, 41 II GG, §§ 13 Nr. 8, 48 I BVerfGG
Beschwerde gegen den Beschluss des Bundestages.
2. Beschwerdeberechtigung, § 48 I BVerfGG
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Abgeordneter, dessen Mitgliedschaft bestritten ist. |
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Wahlberechtigter (§ 12 I BWG), dessen Einspruch gegen die Wahl vom Bundestag verworfen wurde (§ 13 WahlPrG); Beitritt von 100 Wahlberechtigten notwendig. |
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Fraktion oder ein Zehntel der gesetzlichen Bundestagsmitgliederzahl. |
3. Beschwerdebefugnis, § 48 I BVerfGG
Diese ergibt sich aus der ablehnenden Entscheidung des Bundestags.
4. Beschwerdegegenstand, § 48 I BVerfGG
Beschluss des Bundestags über die Gültigkeit einer Wahl oder Verlust der Mitgliedschaft.
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Form, § 23 I, § 48 I Halbs. 2 BVerfGG, schriftlich mit Begründung. |
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Frist, § 48 I Halbs. 1 BVerfGG: Zwei Monate seit Beschlussfassung des Bundestags. |
Die Wahlprüfung ist begründet, wenn die Durchführung der Wahl nicht mit dem geltenden Recht vereinbar ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Behandlung des Einspruchs durch den Bundestag formell fehlerhaft ist und die Wahl materiell gegen die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 38 I GG verstößt. Das BVerfG prüft inzident, ob das Wahlgesetz mit der Verfassung vereinbar ist.
B. Rechtsstaatsprinzip
Fall 3 Unverhoffter Geldsegen
Themenschwerpunkte:Rechtsstaatsprinzip, Rückwirkungsverbot, Vertrauensschutz, Rechtssicherheit, Verhältnismäßigkeit
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Der ledige Arzt B kaufte sich am 1.5.2010 ein Grundstück in einer ländlichen Gegend. Da B kurz vor dem Ruhestand war, wollte er dieses Grundstück nur als Geldanlageobjekt nutzen und es nach Ablauf der sog. „Spekulationsfrist“ des § 23 I 1 Nr. 1 EStG nach 10 Jahren weiterverkaufen. Von dieser steuergünstigen Option hatte er in einem Beratungsgespräch mit seinem Steuerberater erfahren. Nach Ablauf dieser Frist am 1.5.2020 könne er nämlich den möglichen Mehrerlös als Spekulationsgewinn einkommensteuerfrei kassieren. Gesagt, getan: B verkaufte das Grundstück am 1.7.2020; aufgrund der vorteilhaften Lage des Grundstücks und eines neuen Bebauungsplans der Gemeinde konnte es einen steuerfreien Veräußerungsgewinn von 500.000 € einbringen.
Diese „Steuersparmodelle“ waren der Bundesregierung indes schon lange ein Dorn im Auge gewesen. Da seit vielen Jahren die Rentner- und Erbengeneration stetig wachse, würden die Steuereinnahmen des Staates durch derartige Modelle, die noch der Parole „Wohneigentum für alle!“ verpflichtet seien, immer mehr gemindert. Aus diesem Anlass brachte die Bundesregierung nach Zuleitung dem Bundesrat und dessen Stellungnahme eine entsprechende Gesetzesvorlage beim Bundestag ein. Der Bundestag beschloss in einem ordnungsgemäßen Verfahren ein Änderungsgesetz, das am 1.6.2021 verkündet wurde. Damit wurde die Spekulationsfrist auf 12 Jahre verlängert (§ 23 I 1 Nr. 1 EStG n.F.). Im novellierten Abs. 2 der Vorschrift wurde festgelegt, dass dieses Gesetz für alle Veräußerungen gelte, die auf einem nach dem 1.6.2020 noch bestehenden obligatorischen Vertrag oder einem gleichstehenden Rechtsakt beruhten.
B ist darüber empört, da er urplötzlich keinen steuerfreien Gewinn mehr hätte. Er habe extra deswegen noch so lange mit dem Verkauf gewartet, um steuerfreie Gewinne zu haben. Hätte er 2016 verkauft, hätte er, zwar steuerpflichtig, aber aufgrund des damals ausgesprochen günstigen Immobilienmarktes immerhin ca. 700.000 € Gewinn erzielen können. In einem Gespräch mit dem befreundeten Bundestagsabgeordneten X erfährt B, dass die Verlängerung der Spekulationsfrist grundsätzlich möglich sei. Schließlich handele es sich bei der Spekulationsfrist um eine begünstigende Regelung, da Veräußerungsgewinne nach Ablauf der Frist steuerfrei seien. Zudem müsse es dem Staat erlaubt sein, in konjunkturschwachen Zeiten weitere Geldquellen – auch durch Abbau von Steuerprivilegien – zu erschließen. Außerdem sei diese Regelung für B nicht überraschend gekommen. Seit Beginn des Jahres 2020 sei die geplante Änderung von der Bundesregierung und insbesondere vom Bundesfinanzminister in Fernsehen (darunter in einigen Polit-Talkshows) und der allgemeinen wie der Fachpresse verlautbart worden.
Bearbeitervermerk:
Wie ist die Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes zu beurteilen?
Hinweis:
Die Einkommensteuer ist eine Jahressteuer (§ 2 VII 1 EStG), die erst mit Ablauf des Jahres entsteht (§ 36 I EStG).
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Auch C hat ein Problem mit dem Steueränderungsgesetz. C ist Übungsleiter einer Junioren-Fußballmannschaft. Die dafür erhaltene Übungsleiterentschädigung i.H.v. 1.500 € war bisher gem. § 3 Nr. 26 EStG immer steuerfrei. Mit einer weiteren Neuregelung des Einkommensteuergesetzes, die am 1.6.2020 verkündet wurde, wird die Steuerfreiheit für diese Tätigkeiten aufgehoben. Zum Bedauern der Bundesregierung, die auch diese Gesetzesvorlage ordnungsgemäß eingebracht hat, wird beim Gesetzgebungsverfahren ein Fehler aufgedeckt: Bei der Beschlussfassung des Bundestages stimmte die Mehrheit der anwesenden Mitglieder für das Gesetz, jedoch rügte die Bundestagsfraktion der P-Partei die Beschlussunfähigkeit, da weniger als die Hälfte der Mitglieder anwesend gewesen wären – was zutreffend war. Die Rüge wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Beschlussfähigkeit im Zweifel vermutet würde. Nachdem sich herausstellte, dass doch noch eine erneute Abstimmung erforderlich sei, wurde das Gesetz mit demselben Inhalt, diesmal in einem beschlussfähigen Bundestag, mit der Mehrheit der Stimmen beschlossen und am 1.1.2021 noch einmal verkündet. Das Änderungsgesetz soll mit Wirkung vom 1.1.2020 in Kraft treten.
C wendet sich an seinen Steuerberater. Letzterer ist der Meinung, dass das Änderungsgesetz nicht verfassungsgemäß sei. Zum einen sei eine Rückwirkung immer unzulässig. Zum anderen endete die Fußballsaison im Mai 2020. Daher seien Cs Einkünfte bis einschließlich Mai 2020 ohnehin steuerfrei, da das ursprüngliche Gesetz erst am 1.6.2020 verkündet wurde. Zu guter Letzt sei das Änderungsgesetz im Jahre 2020 nicht ordnungsgemäß zustande gekommen.
Bearbeitervermerk:
Wie ist die Verfassungsmäßigkeit der Änderungsgesetze zu beurteilen?
Lösung zu Fall 3
Ausgangsfall
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Das Änderungsgesetz ist verfassungsgemäß, wenn es formell und materiell verfassungsgemäß zustande gekommen ist.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes
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Mangels Sachverhaltsangaben ist das Gesetz formell verfassungsgemäß zustande gekommen. Insbesondere hat der Bund gem. Art. 105 II, III, 106 III GG die Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Einkommensteuer.
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
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In materieller Hinsicht könnte ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen. Indem das Einkommensteuer-Änderungsgesetz eine Regelung trifft, die über einen Zeitraum zurückwirkt, könnte das Rückwirkungsverbot als Unterfall des Rechtsstaatsprinzips verletzt sein.
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