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Auch die Tatsache, dass aufgrund der Sperrklausel 15,7 % der abgegebenen Stimmen nicht den gewählten, sondern anderen Parteien zugutegekommen seien, vermag daran nichts zu ändern. Zwar handelt es sich bei 15,7 % der Stimmen um eine beachtliche, bisher nicht erreichte Größenordnung, so dass sich die Intensität des Eingriffs in die Wahlrechtsgleichheit besonders auswirkt. Allerdings zeigt sich gerade in dem Entfall so vieler Stimmen auf die Splitterparteien die Notwendigkeit der 5 %-Sperrklausel, da bei deren Zulassung die Regierungsbildung und damit die Funktionsfähigkeit des Parlaments umso mehr gefährdet wäre. Eine Rechtfertigung ist der 5 %-Sperrklausel erst dann zu versagen, wenn die Integrationsfunktion der Wahl beeinträchtigt ist, was bei einem Erfolgswertverlust von 15,7 % noch nicht zu befürchten ist.
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Ebenso ist die Verfassungswidrigkeit einer 3 %-Sperrklausel für das Europawahlrecht nicht ohne weiteres auf die Bundestagswahl übertragbar. Im Gegensatz zum Bundestag wählt das Europäische Parlament keine Regierung, die auf fortlaufende Unterstützung angewiesen ist, so dass insofern die Funktionsfähigkeit der Regierungsbildung keine Rolle spielt. Zudem besteht im Falle einer Schwächung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments die Möglichkeit auf nationaler Ebene mit einer Korrektur des Europawahlrechts zu reagieren; diese Reaktionsmöglichkeit fehlt – quasi systemimmanent – sofern die Funktionsfähigkeit des Bundestags wegfällt bzw. gefährdet ist.
bb) Milderes Mittel Eventualstimme?
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Die Einführung eines Eventualstimmrechts hätte sicherlich den Vorteil, dass dieses zwar einerseits den mit einer Sperrklausel verbundenen Eingriff in den Grundsatz der gleichen Wahl insoweit abzumildern geeignet ist, als sich damit die Zahl der Wählerinnen und Wähler verringern ließe, die im Bundestag nicht repräsentiert sind, wenn die von ihnen mit der Hauptstimme gewählte Partei an der Sperrklausel scheitert. Gleichwohl kann die Eventualstimme nicht als milderes Mittel zur bestehenden 5 %-Sperrklausel gesehen werden. Diese würde nämlich die Komplexität der Wahl erhöhen, so dass eine Zunahme von Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen nicht ausgeschlossen erscheint. Vor allem aber wäre die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme ebenfalls in relevantem Umfang mit Eingriffen in den Grundsatz der Wahlgleichheit, möglicherweise auch der Unmittelbarkeit der Wahl verbunden. Dies gilt hinsichtlich der Erfolgswertgleichheit, falls sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme an Parteien vergeben werden, die jeweils die Sperrklausel nicht überwinden. Daneben erscheint die Eröffnung der Möglichkeit einer Eventualstimme aber auch mit Blick auf die Zählwertgleichheit nicht unproblematisch: Während die Stimmen derjenigen, die eine Partei wählen, die die Sperrklausel überwindet, nur einmal gezählt werden, ist dies bei Stimmen, mit denen in erster Priorität eine Partei gewählt wird, die an der Sperrklausel scheitert, nicht der Fall. Vielmehr wären sowohl die Haupt- als auch die Eventualstimme gültig. Die Hauptstimme würde bei der Feststellung des Wahlergebnisses berücksichtigt, wäre im Rahmen der staatlichen Parteienfinanzierung relevant und bliebe lediglich bei der Mandatsverteilung ohne Erfolg. Daneben wäre auch die Eventualstimme eine gültige Stimme, die beim Wahlergebnis berücksichtigt und zusätzlich bei der Mandatsverteilung Relevanz entfalten würde. Mit Blick auf den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl kann die Eventualstimme Probleme aufwerfen, weil letztlich andere Wähler darüber entscheiden, für wen eine Stimme abgegeben wird.[33]
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Die Grundmandats- und die 5 %-Sperrklausel sind verfassungsgemäß.
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Die Opposition könnte die Gültigkeit der Wahl im Rahmen einer Wahlprüfungsbeschwerde überprüfen lassen. Die Wahlprüfung ist in Art. 41 GG verfassungsrechtlich verankert. Vor dem BVerfG ist die Wahlprüfungsbeschwerde gem. Art. 93 I Nr. 5, 41 II GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG möglich. Es handelt sich dabei um ein im Wesentlichen objektives Verfahren zum Schutz des objektiven Wahlrechts.[34] Die Wahlprüfungsbeschwerde geht als lex specialis anderen Rechtsbehelfen vor dem BVerfG vor.[35] Sie richtet sich gegen einen vorherigen Beschluss des Bundestages (Art. 41 II GG). Somit ist zunächst die Wahlprüfung durch den Bundestag gem. Art. 41 I GG durchzuführen.
I. Wahlprüfung durch den Bundestag
1. Zuständigkeit
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Der Bundestag ist gem. Art. 41 I 1 GG, § 1 I WahlprüfungsG[36] für die Wahlprüfung zuständig. Der Begriff Wahlprüfung hat die Überprüfung der Gültigkeit der Bundestagswahl zum Inhalt und umfasst die Befugnis, sämtliche Wahlvorgänge vom Beginn des Wahlverfahrens bis zur Feststellung des Ergebnisses und bis zur endgültigen Sitzverteilung auf das Vorliegen von Wahlfehlern zu überprüfen.[37] Die Wahlprüfung durch den Bundestag ist ein Vorschalteverfahren, in dem auf den Einspruch eines Einspruchsberechtigten hin (§ 2 WahlprüfungsG) über die Gültigkeit der Wahl durch Beschluss entschieden wird.
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Der Bundestag prüft, ob die Wahl gesetzeskonform durchgeführt wurde. Umstritten ist, ob er dabei inzident auch die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, wie z.B. des Bundeswahlgesetzes, überprüfen darf. Einer Ansicht zufolge hat der Bundestag aus Art. 20 III GG das Recht und die Pflicht, das anzuwendende Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit zu hinterfragen.[38] Eine Verwerfungskompetenz steht ihm jedoch nicht zu. Daher sei nach dieser Auffassung der Bundestag zur Vorlage vor dem BVerfG nach Art. 93 I Nr. 2 GG (abstrakte Normenkontrolle) verpflichtet. Nach anderer und wohl richtiger Meinung ist dem Bundestag eine verfassungsrechtliche Überprüfung einfachen Rechts untersagt, was mit der in Art. 20 II GG verankerten Gewaltenteilung zu begründen ist.[39] Der Bundestag ist grundsätzlich an die gesetzlichen Vorschriften, die zur Zeit seiner Wahl gegolten haben, gebunden.[40] Eine Änderungsmöglichkeit von Gesetzen ist daher nicht durch bloßen Beschluss des Bundestages möglich, sondern nur im regulären Gesetzgebungsverfahren und nur ex nunc.[41]
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Der Bundestag kommt zum Ergebnis der Nichtigkeit der Wahl, wenn gegen geltendes Gesetzes- bzw. Wahlrecht verstoßen wurde und dieser Verstoß für das Wahlergebnis entscheidend war.
II. Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG
1. Zulässigkeit
a) Zuständigkeit
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Ergeht auf den Einspruch hin eine ablehnende Entscheidung des Bundestages, dann besteht die Möglichkeit der Wahlprüfungsbeschwerde vor dem BVerfG gem. Art. 41 II, 93 I Nr. 5 GG, §§ 13 Nr. 3, 48 BVerfGG.
b) Beschwerdeberechtigung
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Zur Beschwerde sind die in § 48 I BVerfGG genannten Personen und Gruppen berechtigt. Danach ist auch eine Fraktion oder eine Minderheit des Bundestags berechtigt, die wenigstens ein Zehntel der gesetzlichen Mitgliederzahl umfasst. Daran, dass die Opposition diese Mindestzahl erreichen kann, bestehen hier keine Zweifel.
70
Die Beschwerdebefugnis ergibt sich bereits aus der ablehnenden Entscheidung des Bundestages, da diese gegenüber einem/mehreren Wahlberechtigten ergeht. Darüber hinaus ist dies ein objektives Beanstandungsverfahren, so dass eine subjektive Rechtsverletzung nicht erforderlich ist.
71
Gegenstand der Wahlprüfung ist die Entscheidung des Bundestags über den Wahleinspruch in formeller und materieller Hinsicht. Da die Wahlprüfung ein zweistufiges Verfahren ist, – zunächst Einspruch bei Bundestag und erst nachgelagert die Beschwerde vor dem BVerfG – wird die Wahl nur in dem vor dem Bundestag beantragten Umfang geprüft. Ein neuer Sachvortrag ist präkludiert.[42]
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