Die unechte Rückwirkung bzw. tatbestandliche Rückanknüpfung ist dagegen ausnahmsweise unzulässig, wenn mit den abwägungserheblichen Grundrechten der Vertrauensschutz der Betroffenen gegenüber dem öffentlichen Interesse an der gesetzlichen Neuregelung überwiegt.[25] Der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes ist hierbei auf der Stufe der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu berücksichtigen, d.h. die beiden rechtsstaatlichen Prinzipien greifen hier i.R.d. grundrechtlichen Prüfung ineinander.[26] Abhilfe kann mittels Übergangsregelungen geschaffen werden, die das Ausmaß des Vertrauensschadens abmildern.[27]
1. Verstoß gegen das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot
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Das Änderungsgesetz könnte aufgrund einer echten Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen verfassungswidrig sein. Das Gesetz müsste nachträglich in einen vor der Verkündung abgeschlossenen Sachverhalt eingreifen. Hier kommt es zu einer steuerrechtlichen Besonderheit, da die Einkommensteuer eine Jahressteuer (§ 2 VII 1 EStG) ist und erst mit Ablauf des Jahres entsteht (§ 36 I EStG). Vorliegend hat B das Grundstück am 1.7.2020 verkauft, so dass der steuerlich relevante Sachverhalt erst am 31.12.2020 abgeschlossen ist. Darüber hinaus ist die Spekulationsfrist von 10 Jahren nach altem Recht bereits am 1.5.2020 abgelaufen, so dass ab diesem Zeitpunkt der Veräußerungsgewinn von 500.000 € steuerfrei ist. Nachdem das Änderungsgesetz am 1.6.2021 mit Wirkung für am 1.6.2020 noch bestehende Verträge verkündet wurde, ist nachträglich in den abgeschlossenen Sachverhalt der Besteuerung eingegriffen worden.[28] Für B ist aufgrund der Neuregelung die Spekulationsfrist noch nicht abgelaufen, da rückwirkend eine um zwei Jahre verlängerte Frist gilt. Dies hat zur Konsequenz, dass er den Gewinn als Einkünfte aus privaten Veräußerungsgeschäften versteuern müsste. In der Diktion der Rückbewirkung von Rechtsfolgen ergibt sich nichts Anderes, da in zeitlicher Hinsicht die Rechtsfolgen des Änderungsgesetzes bereits für den Zeitraum vor der Verkündung eintreten. Somit liegt eine echte Rückwirkung bzw. Rückbewirkung von Rechtsfolgen vor.[29] Diese ist grundsätzlich verfassungswidrig.[30] Das daraus resultierende Rückwirkungsverbot basiert auf dem rechtsstaatlichen Vertrauensschutz. Ist das Vertrauen des Betroffenen nicht schützenswert, tritt das Rückwirkungsverbot nicht ein. Daher ist zu überprüfen, ob eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot einschlägig ist.
2. Rechtfertigung bzw. Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot
a) Fehlender Vertrauenstatbestand
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Eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot wäre gegeben, wenn kein Vertrauenstatbestand vorliegt.[31] B müsste Dispositionen getroffen haben, die einen entsprechenden Vertrauensschutz hervorrufen.[32] B ging von einer 10-Jahres-Spekulationsfrist aus. Diese Frist hielt er trotz einer möglichen höheren Gewinnerzielung ein. Zudem hat B entsprechende Dispositionen für das Grundstück als Altersvorsorge getroffen. Die grundsätzliche Verfassungswidrigkeit von belastenden rückwirkenden Regelungen[33] lässt darauf schließen, dass begünstigende Regelungen vom Rückwirkungsverbot nicht erfasst werden.[34] In diesen Fällen wird kein schutzwürdiges Vertrauen auf Leistungs- und Teilhaberechte gegen den Staat begründet. Der Vertrauensschutz wird nicht so weit praktiziert, dass der Bürger auf eine einmal geschaffene Rechtslage „ewig“ vertrauen darf.[35] Allerdings muss dem Bürger die Möglichkeit gegeben werden, auf längere Sicht zu planen und zu disponieren. B hat sich einer derartigen Planung unterworfen. Er hat das Grundstück länger als gewollt behalten. Schließlich hätte er das Grundstück, ebenfalls steuerpflichtig, bereits zu einem früheren Zeitpunkt mit einem höheren Veräußerungsgewinn verkaufen können. Daher könnte ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sein. Darüber hinaus ist entgegen der Aussage des X nicht von einem begünstigenden Gesetz auszugehen. Vielmehr besteht eine grundsätzliche Besteuerung privater Veräußerungsgeschäfte, die nur nach Ablauf bestimmter Fristen entfällt. § 23 I 1 Nr. 1 EStG ist konstitutiv für die Steuerpflicht, so dass eine solche Vorschrift bereits per se belastend ist. Der Schwerpunkt des Gesetzes besteht damit in der Besteuerung von Sachverhalten und nicht in der Befreiung. Richtet B nun seine Vermögensdispositionen danach aus, um die Besteuerung zu vermeiden, dann ist dadurch ein schutzwürdiges Vertrauen entstanden, das keine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot zulässt.
b) Keine Schutzwürdigkeit wegen zu erwartender Gesetzesänderung
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Eine weitere Ausnahme wäre gegeben, wenn B nicht auf den Fortbestand der 10-Jahres-Frist vertrauen durfte bzw. damit rechnen musste, dass diese Frist verlängert werden würde. Dabei kommt es entscheidend darauf an, welche Kriterien hierfür gelten. Die Schutzwürdigkeit wäre im Fall des B nicht gegeben, wenn er bereits zu dem Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen ist, mit dem Änderungsgesetz rechnen musste. Die Rückwirkung gilt für den 1.6.2020. Die Spekulationsfrist ist nach der alten Regelung am 1.5.2020 abgelaufen. Der Verkauf fand am 1.7.2020 statt. Hätte B bereits vor diesem Zeitpunkt mit dem Änderungsgesetz rechnen müssen, so besteht kein Grund, die Rückwirkung als unzulässig anzusehen. Denn unter diesen Umständen hätte B noch unter Geltung der alten Regelung, also vor Eintritt deren Rechtsfolgen am 1.6.2020, das Grundstück steuerfrei veräußern können. Laut Aussage des X wurde schon des Öfteren von der Bundesregierung, insbesondere vom Bundesfinanzminister, bereits zu Beginn des Jahres 2020 das Änderungsgesetz angekündigt. Infolgedessen hätte B damit möglicherweise rechnen können. Bloße Ankündigungen oder Äußerungen sind jedoch, auch wenn sie von der Bundesregierung kommen, nicht ausreichend. Vielmehr stellt erst der konkrete Gesetzesbeschluss den relevanten Zeitpunkt dar.[36] Auch ein Regierungsentwurf genügt nicht.[37] Denn vor diesem Zeitpunkt sind noch zu viele Unwägbarkeiten gegeben, die keine entsprechend gefestigte Dispositionsgrundlage für den Bürger bilden. Das Gesetzgebungsverfahren ist von vielen Vorgängen und Abstimmungen geprägt (vgl. Art. 76 ff. GG), so dass es dem Bürger nicht zumutbar ist, vor einem Gesetzesbeschluss überhaupt auf eine angekündigte Neuregelung zu vertrauen. Somit musste B nicht mit einer Neuregelung rechnen.
c) Zwingende Gründe des Allgemeinwohls
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Letztlich stehen dem Rückwirkungsverbot auch nicht zwingende Gründe des Allgemeinwohls entgegen. Als solche könnten die entgangenen Steuereinnahmen angesehen werden. Dies allein rechtfertigt eine rückwirkende Besteuerung jedoch nicht. Möglicherweise anders zu beurteilen wäre der Fall bei einer Staatskrise, die den Staat ohne zusätzliche Steuereinnahmen in den Ruin treiben würde.
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Das geltende Recht ist auch nicht unklar oder verworren. Die Verfassungswidrigkeit des bisherigen Gesetzes stand nicht in Frage. Ein konkreter Handlungsbedarf aus Gründen der Rechtssicherheit war nicht ersichtlich. Folglich kommt als Rechtfertigung für die echte Rückwirkung auch die Ersetzung einer nichtigen Vorschrift nicht in Betracht.
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Es bleibt beim Grundsatz des Rückwirkungsverbots. Zulässige Ausnahmen bestehen nicht. Das Änderungsgesetz ist damit aufgrund der echten Rückwirkung verfassungswidrig.
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In der Abwandlung ist zu prüfen, ob die Änderungsgesetze formell und materiell verfassungsgemäß sind.
I. Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes vom 1.6.2020
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Das Änderungsgesetz vom 1.6.2020 ist verfassungsgemäß, wenn es formell und materiell mit dem Grundgesetz in Einklang steht.
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