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Sobald natürliche Handlungsmöglichkeiten durch staatliche Maßnahmen eingeschränkt werden, bedarf dies einer Rechtfertigung. Insofern schützt Art. 2 I GG auch vor der Einführung einer etwaigen Steuerpflicht.[54] Durch die Besteuerung der Einkünfte aus der Übungsleitertätigkeit wird C in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt. Diese Abgabepflicht vermindert seine tatsächlichen Einnahmen und damit auch die Verwendungsmöglichkeiten der durch diese Tätigkeit erlangten Mittel.[55] Somit ist ein Eingriff durch das Änderungsgesetz zu bejahen. Dieser Eingriff könnte jedoch durch die Schranke der verfassungsgemäßen Ordnung aus Art. 2 I GG gerechtfertigt sein. Davon ist die gesamte Rechtsordnung umfasst, soweit sie formell und materiell verfassungsgemäß ist.[56] Demzufolge ist auch das Änderungsgesetz zum EStG eine Rechtsnorm, die als Schranke einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit rechtfertigen kann. Allerdings müsste hierfür das Änderungsgesetz verfassungsgemäß, insbesondere verhältnismäßig sein.
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Exkurs
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, gelegentlich auch Übermaßverbot genannt, ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips[57] und gilt als Leitregel allen staatlichen Handelns.[58] So hat etwa die Verwaltung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen des Verwaltungsermessens, sofern ihr ein solches im jeweiligen Gesetz eingeräumt wird, zu beachten. In diesem Zusammenhang ergänzt das Übermaßverbot den ebenfalls aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Soweit es um die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers geht, ist das Verhältnismäßigkeitsgebot Ausdruck der Grundrechte und findet seinen dogmatischen Eingang in die verfassungsmäßige Rechtfertigung staatlicher Eingriffe. Zugleich kann es aber auch zwischen einzelnen Staatsorganen zur Anwendung kommen, wenn eine geschützte Rechtsposition beeinträchtigt wird, und ist dann direkt als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips zu verstehen.[59] Beispielhaft sei hier die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens durch die zuständige Behörde im Baurecht erwähnt (gem. § 36 II 3 BauGB i.V.m. den jeweils einschlägigen landesrechtlichen Vorschriften). Die Ersetzung greift in die Planungshoheit der Gemeinde als Teil des kommunalen Selbstverwaltungsrechts aus Art. 28 II GG ein. Dieser Eingriff ist insbesondere nur dann rechtmäßig, wenn er verhältnismäßig ist.[60]
Dies gilt bei einer staatlichen Maßnahme gerade dann, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt und geeignet ist, dessen Erreichung zu fördern. Darüber hinaus muss die Maßnahme erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne, also angemessen sein.[61] Für die Bestimmung der Geeignetheit gelten unterschiedliche Maßstäbe, die davon abhängig sind, ob ein Organ der Legislative, der Exekutive oder der Judikative handelt. Maßnahmen der Verwaltung sind grundsätzlich vollumfänglich auf ihre Geeignetheit überprüfbar, da sich deren Handeln nach dem jeweiligen Gesetz bestimmt. Der Gesetzgeber hingegen muss eine Prognose beim Erlass eines Gesetzes abgeben und zukünftige Entwicklungen einschätzen, verfügt also über einen Prognose- und Beurteilungsspielraum (Einschätzungsprärogative).[62] Die Geeignetheit wird in diesem Fall erst bei offensichtlich fehlerhaften Einschätzungen abzulehnen sein.[63]
Die Erforderlichkeit bestimmt sich danach, ob die gewählte Maßnahme das mildeste, den Adressaten am wenigsten belastende, aber gleich effektive Mittel darstellt.[64] Entscheidend ist daher, ob die weniger einschneidende Maßnahme auch gleich wirksam wäre. Während dem Gesetzgeber auch hier ein Spielraum zur Verfügung steht, wird der Verwaltung die erforderliche Maßnahme durch das Gesetz vorgegeben.
Im Rahmen der Angemessenheit erfolgt eine Abwägung, ob die geeignete und erforderliche Maßnahme auch im Verhältnis zum verfolgten Zweck steht. Gegenstand der Abwägung sind die individuell geschützten Rechtsgüter auf der einen Seite und die entgegenstehenden öffentlichen Interessen auf der anderen Seite. Schließlich darf das staatliche Handeln nicht die Grenzen der Zumutbarkeit überschreiten.[65]
Zu guter Letzt gibt es aber nicht nur Grenzen, wann der Gesetzgeber tätig werden darf, sondern auch Verpflichtungen des Gesetzgebers zum Einschreiten. Dies besagt das Untermaßverbot. Als Gegenstück zum Übermaßverbot findet es jedoch überwiegend bei Schutzpflichten des Staates gegenüber dem Bürger Anwendung. Demnach hat der Staat einzugreifen, um einen Mindeststandard an Schutz des Bürgers zu gewährleisten.[66]
cc) Anwendung auf den Fall
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In der praktischen Anwendung unterscheiden sich die erläuterten Ansätze jedoch kaum, da in jedem Fall eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt.
Die Erzielung von Steuereinnahmen ist ein legitimer Zweck, den der Gesetzgeber mit dem Erlass des Änderungsgesetzes verfolgt. Das Änderungsgesetz ist zudem geeignet, um den Zweck, mehr Steuern einzunehmen, zu verfolgen. Gerade bei wirtschaftslenkenden Gesetzen hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative. Eine offensichtliche Fehleinschätzung zur Geeignetheit des Änderungsgesetzes ist nicht ersichtlich. Ein milderes gleich wirksames Mittel für die Erzielung von Einnahmen für den Staat ist nicht gegeben. Daher ist auch die Erforderlichkeit zu bejahen.
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Fraglich ist jedoch, ob das Änderungsgesetz angemessen ist. An dieser Stelle müssen das öffentliche Interesse an der Erzielung von Steuereinnahmen und die wirtschaftliche Handlungsfreiheit des C miteinander abgewogen werden. Das Änderungsgesetz vom 1.6.2020 stellt eine unechte Rückwirkung bzw. eine tatbestandliche Rückanknüpfung dar (s.o.). Diese ist grundsätzlich zulässig, kann aber aus Gründen des Vertrauensschutzes verfassungswidrig sein. Für C war es während seiner Übungsleitertätigkeit bis Mai 2020 nicht ersichtlich, dass diese Tätigkeit am 1.6.2020 steuerpflichtig gestellt werden würde. Daher könnte aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes die nachträgliche Neuregelung unverhältnismäßig und damit auch verfassungswidrig sein. Dagegen ist das Allgemeinwohl abzuwägen. Für begünstigende Regelungen, wie die Steuerfreiheit bestimmter Tätigkeiten, besteht keine „Ewigkeitsgarantie“. Der Bürger darf sich nicht darauf verlassen, dass eine derartige Regelung auch immer so bleiben wird. Auch wenn die Rechtsposition des C nachträglich verschlechtert wird, muss es dem Staat unbenommen bleiben, Änderungen herbeizuführen. Die Interessen des Staates werden dahingehend überwiegen, dass die Staatsfinanzen und die Aufbesserung des Haushalts ein wichtiges steuerpolitisches Ziel sind. Zudem ist zu berücksichtigen, dass dem Bürger nicht eine zusätzliche Steuerbelastung widerfährt, sondern eine steuerfreie Einnahme steuerpflichtig gestellt wird. Darüber hinaus kann sich C für seine weitere Übungsleitertätigkeit darauf einstellen. Infolgedessen ist das Änderungsgesetz vom 1.6.2020 als materiell verfassungsgemäß anzusehen.
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Das Änderungsgesetz ist zwar materiell verfassungsgemäß, aber formell verfassungswidrig.
II. Verfassungsmäßigkeit des Änderungsgesetzes vom 1.1.2021
1. Formelle Verfassungsmäßigkeit
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In formeller Hinsicht ist das Änderungsgesetz vom 1.1.2021 nicht zu beanstanden. Hier lag die Beschlussfähigkeit vor und die Beschlussfassung erfolgte ordnungsgemäß.
2. Materielle Verfassungsmäßigkeit
a) Art der Rückwirkung
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Das Änderungsgesetz vom 1.1.2021 gilt rückwirkend für den 1.1.2020. Fraglich ist, welche Art von Rückwirkung hier vorliegt. Bei einer echten Rückwirkung bzw. einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen müsste das Änderungsgesetz Rechtsfolgen an einen abgeschlossenen Sachverhalt knüpfen. Den steuerrelevanten Sachverhalt der Übungsleitertätigkeit hat C bis einschließlich Mai 2020 bereits ausgeführt. Da die Einkommensteuer eine Jahressteuer ist (s.o.), ist der steuerrelevante Sachverhalt am 31.12.2020 bereits abgeschlossen. Folglich stellt sich das Änderungsgesetz vom 1.1.2021 als eine echte Rückwirkung dar.
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