b) Ausnahme vom Rückwirkungsverbot
121
Das generelle Rückwirkungsverbot greift aber nicht, wenn eine Ausnahme einschlägig ist, die eine Rückwirkung rechtfertigt. Vorliegend kommen zwei Ausnahmetatbestände in Betracht. Zum einen ersetzt die Neuregelung vom 1.1.2021 das formell verfassungswidrige Änderungsgesetz vom 1.6.2020. In materieller Hinsicht bleibt die Neuregelung unverändert. Lediglich der formelle Fehler wird durch das Gesetz vom 1.1.2021 behoben. Zum anderen musste C, nachdem sich inhaltlich das Änderungsgesetz vom 1.1.2021 nicht änderte, zu dem Zeitpunkt, auf den sich die Rückwirkung bezieht, mit der Neuregelung rechnen. In beiden Fällen ist daher kein schutzwürdiges Vertrauen des C gegeben. Vielmehr wusste er nach Verkündung des Gesetzes vom 1.6.2020, dass eine Änderung der Rechtslage erfolgen wird. Daran ändert die formelle Verfassungswidrigkeit nichts. Weiterhin bot das Änderungsgesetz aufgrund formeller Fehler keine tragfähige Vertrauensgrundlage und der Neuerlass diente der Beseitigung einer unklaren Rechtslage. Dass es zu einer Neuregelung kommen würde, musste C daher bekannt sein. Dies konnte sein Vertrauen in den Fortbestand der bisherigen Regelung aufheben.[67]
122
Das Änderungsgesetz ist formell und materiell verfassungsgemäß.
Themenschwerpunkte:Rechtsstaatsprinzip, Gewaltenteilung, Einzelfallgesetz, Bestimmtheitsgebot, Rechtssicherheit, abstrakte Normenkontrolle
123
Zur Verbesserung der Ost-West-Verbindung soll eine ICE-Strecke der Deutschen Bahn AG zwischen Freiburg und Frankfurt a.d. Oder gebaut werden. Ziel dieser Planung ist es, eine Hochgeschwindigkeitsverbindung zu ermöglichen, um auch die Bundeshauptstadt schneller erreichen zu können. Jedoch kam es schon bald zu einem Stillstand der Planungsarbeiten, da die Erörterungstermine, insbesondere im Bundesland X, eine rasche Beendigung des Planfeststellungsverfahrens unmöglich machten. Eine Vielzahl von Naturschützern und Lokalpolitikern wehrten sich gegen dieses Projekt, da es einer Umweltverträglichkeitsprüfung möglicherweise nicht standhalten könnte. Daher beschloss die Koalitionsfraktion in Abstimmung mit der Deutschen Bahn AG, deren alleiniger Aktionär die Bundesrepublik Deutschland ist, in einem Investitionsmaßnahmengesetz zum „Zukunftsprojekt Ost-West-Achse“ die Planung durch ein formelles Gesetz festzulegen, das einen Planfeststellungsbeschluss entbehrlich mache und die Planung selbst in detaillierter Form vornehme. Das Investitionsmaßnahmengesetz (InvestG) trat am 1.1.2021 in Kraft. Darin sind u.a. folgende Bestimmungen enthalten:
(1) Zur Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und zur Überwindung der Folgen der Teilung Deutschlands [...]. Der Bau erfolgt durch die Deutsche Bahn AG und nach dem Plan, der diesem Gesetz als Anlagen 1 bis 24 beigefügt ist.
(2) Durch dieses Gesetz ist die Zulässigkeit des Vorhabens einschließlich der notwendigen Folgemaßnahmen an anderen Anlagen im Hinblick auf alle von ihm berührten öffentlichen Belange festgestellt. Weitere behördliche Entscheidungen, insbesondere öffentlich-rechtliche Genehmigungen, Verleihungen, Erlaubnisse, Bewilligungen, Zustimmungen und Planfeststellungen sind nicht erforderlich.
§ 2 Enteignungs- und Entschädigungsverfahren
(...)
(1) Bauwerke, welche den Belangen des Vorhabens entgegenstehen, können ohne weitere behördliche Entscheidungen entfernt werden.
(2) Das Enteignungsverfahren und die Enteignungsentschädigung richten sich nach § 2.
Die Landesregierung von X befürchtet aufgrund dieses Gesetzes massive Probleme für ihren Wahlkampf für die Landtagswahl 2021. Die geplante „Enteignung“ der Bürger sei rechtlich sehr problematisch. Das Gesetz drücke sich nur unklar aus, wer denn von dieser Enteignung betroffen sein könnte. Ein Rechtsschutz gegen dieses Bauvorhaben sei den Bürgern auch nicht möglich, da ihnen Einwände gegen den Planfeststellungsbeschluss durch die Gesetzesform genommen würden. Weiterhin fragt sich die Landesregierung, ob der Bundestag nicht hierbei seine Kompetenzen überschritten hatte, da es sehr ungewöhnlich sei, ein Gesetz für eine einzelne Baumaßnahme zu erlassen. Da die Landesregierung das Gesetz aus den oben genannten Gründen für verfassungswidrig hält, ruft sie das BVerfG an, das die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes feststellen soll.
Bearbeitervermerk:
Bereiten Sie in einem Gutachten die Entscheidung des BVerfG vor. Auf Grundrechte ist bis auf Art. 14 III 1 GG nicht einzugehen.[1]
Lösung zu Fall 4
I. Verfahrensart
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In Betracht kommt eine abstrakte Normenkontrolle gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG, da die Landesregierung die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes vor dem BVerfG feststellen lassen will. Eine konkrete Normenkontrolle ist nicht einschlägig, da das Gesetz nicht entscheidungserheblicher Gegenstand eines Rechtsstreits ist.
II. Zulässigkeit[2]
1. Zuständigkeit
125
Das BVerfG ist gem. Art. 93 I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG zuständig, da der Gegenstand des Antrags der Landesregierung die Feststellung der Vereinbarkeit von Bundesrecht mit dem Grundgesetz ist.
126
Der Antrag zur Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle kann nur durch einen begrenzten Kreis von Berechtigten erfolgen, Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 BVerfGG. Dabei gilt das Enumerativprinzip, so dass die Aufzählung abschließend und eine Erweiterung durch Analogie oder Auslegung unzulässig ist.[3] Darunter fällt auch die Landesregierung. Die Regierung des Landes X ist folglich antragsberechtigt.
127
Das Investitionsmaßnahmengesetz ist ein formelles Bundesgesetz und damit tauglicher Antragsgegenstand i.S.d. Art. 93 I Nr. 2 GG, § 76 I BVerfGG.
4. Antragsgrund („Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel“)[4]
128
Nach dem Wortlaut des Art. 93 I Nr. 2 GG sind Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz erforderlich. Problematisch ist hierbei, dass Art. 93 I Nr. 2 GG (nur) Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel an der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes verlangt, während der Antragsteller die Norm laut § 76 I Nr. 1 BVerfGG für nichtig halten müsse. Daher wird vertreten, dass § 76 I Nr. 1 BVerfGG aufgrund seiner engeren Formulierung teilweise nichtig sei[5] oder aber verfassungskonform ausgelegt werden müsse.[6]
Vorliegend ist die Landesregierung von der Verfassungswidrigkeit des Bundesgesetzes überzeugt. Ein Für-verfassungswidrig-Halten impliziert ein Für-nichtig-Halten, weswegen es hier auf den Wortlautunterschied zwischen Art. 93 I Nr. 2 GG und § 76 I Nr. 1 BVerfGG nicht ankommt. Somit wird vorliegend das Investitionsmaßnahmengesetz (im Folgenden InvestG) für nichtig gehalten, so dass selbst die engere Formulierung des § 76 I Nr. 1 BVerfGG erfüllt ist. Es kommt also auf den genannten Meinungsstreit[7] nicht an. Ein tauglicher Antragsgrund liegt somit vor.
5. Objektives Klarstellungsinteresse, Form und Frist
129
Mangels gegenteiliger Sachverhaltsangaben sind diese Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt. Eine Frist ist bei der abstrakten Normenkontrolle nicht zu beachten.
130
Der Antrag zur abstrakten Normenkontrolle ist zulässig.
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