Nach Klärung der Sach- und Rechtslage ist der Vorsitzende Richter des VG der Überzeugung, dass § 6 VIG verfassungswidrig sei, da der Bundesgesetzgeber keine Kompetenz für eine derartige Regelung habe. Außerdem sei es untragbar, wenn sich die Länder auf diesem Wege ihre Gebührenregelung für die Inanspruchnahme ihrer Verwaltung vom Bund vorschreiben lassen müssten. Daher will das VG die Verfassungswidrigkeit von § 6 VIG vom BVerfG feststellen lassen.
Bearbeitervermerk:
Wie wird das BVerfG entscheiden?
147
Aufgrund der europäischen Finanzkrise, bei der viele Banken Abschreibungen in Milliardenhöhe vornehmen oder Insolvenz anmelden mussten, beschließt das Bundesfinanzministerium (BMF), die Bankenaufsicht zu verschärfen und zu erweitern. Um den Mehraufwand entsprechender Kontrollmaßnahmen zu finanzieren, soll von den Finanzdienstleistungsinstituten eine Kostenumlage erhoben werden, deren Höhe abhängig vom jeweiligen Geschäftsumfang der Banken sein soll. Deshalb ist angedacht als rechtliche Grundlage hierfür das Kreditwesengesetz (KWG) zu novellieren; ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt im BMF schon vor.
Als die Y-Bank davon hört, stellt sie sich die Frage, ob der Bund überhaupt die notwendige Gesetzgebungskompetenz für diesen Sachbereich hat. Es sei doch allgemein bekannt, dass „Gebühren“ in den Zuständigkeitsbereich der Landesgesetzgeber fallen würden. Deshalb wendet sich die Y-Bank an den Rechtsanwalt X zur Klärung der Gesetzgebungskompetenz.
Bearbeitervermerk:
Wer ist für den Erlass der entsprechenden Kostenumlage zuständig?
Lösung zu Fall 5
Ausgangsfall
I. Verfahrensart
148
Der Verwaltungsrichter wird eine konkrete Normenkontrolle beim BVerfG gem. Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG anstreben. Da allein das BVerfG die sog. Verwerfungskompetenz für förmliche Gesetze des Bundes und der Länder hat, müssen die anderen Gerichte, wenn sie eine Norm mit dem GG für unvereinbar halten, diese dem BVerfG vorlegen.[1] Durch die Richtervorlage wird damit die Verfassungsmäßigkeit der im konkreten Fall zur Anwendung kommenden Norm durch das BVerfG festgestellt.
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Exkurs
Nicht verwechselt werden darf die mittels der konkreten Normenkontrolle erfolgende, prinzipale Normenkontrolle durch das BVerfG mit der sog. inzidenten Normenkontrolle. Während die prinzipale Normenkontrolle ein Verfahren darstellt, das eine Norm zum unmittelbaren Verfahrensgegenstand hat und allein auf dessen Verwerfung gerichtet ist, stellt die inzidente Normenkontrolle ein Verfahren dar, bei dem die Norm als Vorfrage der Rechtmäßigkeit eines Einzelaktes geprüft wird. Die Norm selbst ist damit nicht unmittelbarer Verfahrensgegenstand. Geht es in einem Verfahren beispielsweise um die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, muss als Vorfrage geklärt werden, ob die Norm, auf welche sich der Verwaltungsakt stützt, ihrerseits rechtmäßig ist. Die Rechtmäßigkeit der Norm wird damit inzident geprüft. Prozessuales Ergebnis der so erfolgenden inzidenten Normenkontrolle ist – im Gegensatz zur konkreten Normenkontrolle – nicht die verbindliche Nichtigerklärung der geprüften Norm, sondern lediglich die Nichtanwendung im konkreten Einzelfall. Im Beispiel wäre der Verwaltungsakt bei Rechtswidrigkeit der Norm ohne entsprechende Rechtsgrundlage und damit seinerseits rechtswidrig, weshalb er im Rahmen einer Anfechtungsklage vor dem VG aufgehoben werden müsste. Inzidente Normenkontrollen betreffen damit grundsätzlich nur die Prozessparteien im Einzelfall („inter partes“), die prinzipalen Normenkontrollen wirken im Gegensatz dazu allgemein verbindlich („erga omnes“).
Die konkrete, prinzipale Normenkontrolle muss gem. Art. 100 I GG im Falle nachkonstitutioneller Parlamentsgesetze erfolgen, da sich ansonsten das Fachgericht über das Verwerfungsmonopol des BVerfG hinwegsetzen würde. Die inzidente Normenkontrolle kann demnach nur bei vorkonstitutionellem Recht oder untergesetzlichen Normen wie beispielsweise Satzungen oder Verordnungen erfolgen.
II. Zulässigkeit
1. Zuständigkeit
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Das BVerfG ist gem. Art. 100 I GG, §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfGG für das Verfahren der konkreten Normenkontrolle zuständig.
151
Zur Normenkontrolle sind gem. Art. 100 I GG alle staatlichen Gerichte vorlageberechtigt. Unter staatlichen Gerichten versteht man alle Spruchkörper (Einzelrichter, Kammer oder Senat), die sachlich unabhängig sind und in einem formell wirksamen Gesetz mit den Aufgaben eines Gerichts betraut sowie als Gericht bezeichnet sind.[2] Vorlagebefugt sind demnach insbesondere die in Art. 92, 95, 96 und 96a GG genannten Rechtsprechungskörper, wozu u.a. auch die VG gehören, vgl. Art. 95 I GG. Das VG in Form des Verwaltungsrichters ist folglich vorlageberechtigt.[3]
152
Als Vorlagegegenstand kommen nur formelle und nachkonstitutionelle Gesetze in Betracht, da diese von der (inzidenten) Verwerfungskompetenz der Fachgerichte ausgenommen sind. Hintergrund ist die Autorität des nachkonstitutionellen Gesetzgebers (Bundestag, Landtag): Nur der parlamentarische Gesetzgeber solle sich nicht von jedem Gericht den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass seine Gesetze verfassungswidrig seien, weshalb die Normverwerfungskompetenz hierfür allein beim BVerfG liegt. Untergesetzliche Rechtsnormen wie Satzungen und Verordnungen (exekutives Recht) und vorkonstitutionelle Gesetze[4] sind dementsprechend keine tauglichen Vorlagegegenstände im Rahmen der konkreten Normenkontrolle, da bei diesen ohnehin jedes Gericht Prüfungs- und Normverwerfungskompetenz besitzt.
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Exkurs
Eine Ausnahme gilt für vorkonstitutionelle Gesetze, deren Geltung der Gesetzgeber willentlich übernimmt oder die in einem engen Sachzusammenhang mit einem nachkonstitutionellen Gesetz stehen.[5] Als Faustformel gilt daher, dass der Gesetzgeber das vorkonstitutionelle Gesetz „in seinen Willen aufgenommen“ haben muss, um tauglicher Vorlagegegenstand zu sein (z.B. BGB, StGB, ZPO). Vorlagefähig sind auch verfassungsändernde Gesetze sowie die Zustimmungsgesetze zu Staatsverträgen, die dann selbst tauglicher Entscheidungsgegenstand sind.[6]
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Das Bundesgesetz zur Gebührenbefreiung der Deutschen Bahn AG ist erst kürzlich vom Deutschen Bundestag erlassen worden. Somit handelt es sich um ein formelles, nachkonstitutionelles Gesetz und damit um einen tauglichen Vorlagegegenstand.
4. Überzeugung des Gerichts von der Verfassungswidrigkeit
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Wie dem Gesetzeswortlaut des Art. 100 I GG zu entnehmen ist, muss das Gericht von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes überzeugt sein. Dies setzt subjektiv die Vorstellung des erkennenden Richters von der Ungültigkeit der Norm voraus. Bloße Zweifel oder Bedenken im Sinne eines „für-möglich-Haltens“ reichen hingegen nicht aus.[7] Voraussetzung ist damit, dass der Richter die Norm inhaltlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit geprüft hat, denn nur so kann er darlegen, dass er von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt ist. Die Darlegung erfolgt hierbei im Rahmen eines Vorlagebeschlusses des Fachgerichts, der sich nicht nur auf die Aufzählung von Nichtigkeitsgründen beschränken darf, sondern darüber hinaus auch begründen muss, warum eine verfassungskonforme Auslegung der Norm nicht in Betracht kommt, die eine Vorlage entbehrlich machen würde.[8] Denn eine verfassungskonforme Auslegung ist gegenüber einer konkreten Normenkontrolle vorrangig und damit vom Fachgericht primär zu wählen.[9] Art. 100 I GG begründet damit zwar ein Verwerfungsmonopol des BVerfG für Parlamentsgesetze, setzt aber gleichzeitig eine Normprüfungskompetenz und -pflicht aller Fachgerichte voraus. Ist über die Verfassungsmäßigkeit dieser Norm schon einmal vom BVerfG entschieden worden, so ist eine entgegenstehende Überzeugung des Gerichts unbeachtlich und ein Antrag nach Art. 100 I GG scheidet aus.[10] Vorliegend ist das Gericht von der Verfassungswidrigkeit des Bundesgesetzes überzeugt. Mangels entgegenstehender Angaben ist über die vorgelegte Norm zudem noch nicht vom BVerfG entschieden worden.
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