cc) Konkurrierende Gesetzgebungskompetenz, Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG
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Eine etwaige Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Regelung zur Entrichtung von Verwaltungsgebühren könnte sich aus Art. 72 i.V.m. Art. 74 GG, der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz, ergeben. Danach haben die Länder in den in Art. 74 I GG genannten Gebieten die Gesetzgebungsbefugnis nur, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht durch Gesetz Gebrauch gemacht hat, vgl. Art. 72 I GG. Ein Kompetenztitel des Art. 74 GG liegt jedoch nicht vor. Insbesondere Art. 74 I Nr. 23 GG bleibt ausdrücklich unangewandt.
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Exkurs
Konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit bedeutet, dass für bestimmte Materien Bund und Länder nebeneinander, also konkurrierend, zuständig sind. Welche Bereiche dies im Einzelnen sind, ist in Art. 74 GG aufgeführt. Wer unter welchen Voraussetzungen legislativ tätig werden darf, regelt Art. 72 GG. Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 wurde die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz in drei Unterarten aufgeteilt: Die Vorranggesetzgebung (Art. 72 I GG), die Erforderlichkeitsgesetzgebung (Art. 72 II GG) und die Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 III GG).
Vorranggesetzgebung, Art. 72 I GG
Die Vorranggesetzgebung umfasst alle Gegenstände, die weder der Erforderlichkeitskompetenz noch der Abweichungskompetenz unterfallen.[23] Teilweise ist auch die Rede von der bedingungslosen Bundeszuständigkeit oder der Kernkompetenz des Bundes.[24] Danach haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz nur, solange und soweit der Bund nicht durch Gesetz davon Gebrauch gemacht hat. Hierbei wird unwiderlegbar vermutet, dass eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich ist, wenn sich der Bundesgesetzgeber zum Erlass eines entsprechenden Gesetzes entschließt, so dass die Länderinteressen nach einem eigenen gesetzgeberischen Tätigwerden zurücktreten. Ein Gebrauchmachen des Bundes liegt dann vor, wenn eine bestimmte Frage in einem Bundesgesetz ausdrücklich geregelt ist, wobei auch der ausdrückliche Verzicht auf eine Regelung diese Voraussetzung erfüllt.[25]
Erforderlichkeitskompetenz, Art. 72 II GG
Waren vor der Föderalismusreform 2006 alle Bereiche der konkurrierenden Gesetzgebung der Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 II GG unterworfen, so sind diese nach der Reform auf abschließend aufgezählte Kompetenztitel des Art. 74 GG beschränkt. Nur bei diesen ist die Erforderlichkeit zu prüfen.[26] Durch die Erforderlichkeitsklausel darf der Bund abweichend vom Grundsatz in Art. 72 I GG nur dann gesetzgeberisch tätig werden, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht. Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse liege hierbei laut BVerfG dann vor, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet“.[27] Zur Wahrung der Rechtseinheit im gesamtstaatlichen Interesse dürfe der Bund handeln, wenn eine Gesetzesvielfalt auf Länderebene eine Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen darstellte, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden könnte.[28] Eine Wahrung der Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse liegt vor, wenn Landesregelungen oder das Untätigbleiben der Länder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft mit sich brächten.[29] Im Übrigen verbleibt es bei der Gesetzgebungskompetenz der Länder.
Abweichungskompetenz, Art. 72 III GG
Die Regelung des Art. 72 III GG sieht ein materielles Abweichungsrecht der Länder in bestimmten, abschließend aufgeführten Bereichen vor. Die Länder können, wenn der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat, ein eigenes neues Gesetz erlassen und damit von den bundesrechtlichen Regelungen abweichen. Die Bundesgesetze haben damit keine Sperrwirkung mehr. Deshalb treten gem. Art. 72 III 2 GG die Bundesgesetze grundsätzlich erst frühestens sechs Monate nach ihrer Verkündung in Kraft. Denn damit wird den Ländern die Möglichkeit zur Überprüfung des Bundesgesetzes gegeben.
Mangels einschlägigen Kompetenztitels nach Art. 74 GG kommt keine Gesetzgebungskompetenz aus konkurrierender Gesetzgebung in Betracht. Eine Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Verwaltungsgebühren könnte sich mithin allein aus ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen ergeben, die den Katalog der geschriebenen Bundeszuständigkeiten erweitern.
dd) Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs
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In Betracht käme die ungeschriebene Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs. Eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs liegt dann vor, wenn eine dem Bund zugewiesene Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne zugleich eine nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesene Materie mitzuregeln. Die Mitregelung dieser Materie muss unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der dem Bund zugewiesenen Materie sein.[30] Nicht ausreichend sind bloße Zweckmäßigkeitserwägungen, um eine Zuständigkeit zu begründen.[31] Grund hierfür ist, dass die Erweiterung der geschriebenen Gesetzgebungskompetenzen nicht durch Auslegung, Analogien oder allgemeine Verfassungsgrundsätze „ausgenutzt“ werden darf.[32] Im Unterschied zur Annex-Kompetenz – einer weiteren ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenz – geht die Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs „in die Breite“.[33] Das bedeutet, dass der Bund eine ihm nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mitregelt. Bei der Annexkompetenz hingegen regelt der Bund Angelegenheiten der Vorbereitung und Durchführung einer ihm zugewiesenen Gesetzesmaterie mit („in die Tiefe“).[34]
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Für den Fall bedeutet dies, dass eine Zuständigkeit des Bundes zur Mitregelung der Verwaltungsgebühren über den ihm zugewiesenen Bereich des Eisenbahnverkehrs erwachsen könnte. Hierfür müsste die bundesgesetzliche Gebührenregelung in einem Sachzusammenhang mit dem Betrieb des Eisenbahnverkehrs stehen und zudem eine unerlässliche Voraussetzung für ihn darstellen. Regelungen des Verwaltungsgebührenrechts sind allerdings nicht unerlässliche Voraussetzung im Hinblick auf den Bau neuer Schienentrassen. Vielmehr sind das Verwaltungsgebührenrecht der Länder und der Betrieb der Eisenbahn zwei grundverschiedene, voneinander trennbare Bereiche. Infolgedessen ist eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs abzulehnen.[35]
ee) Gesetzgebungsbefugnis nach Art. 87e III 4, IV 2 GG
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Möglicherweise könnte die Gesetzgebungskompetenz aus Art. 87e III 4, IV 2 GG als spezielle Gesetzgebungsermächtigung folgen. Danach wird die Veräußerung von Eisenbahninfrastrukturunternehmen sowie die Ausgestaltung der staatlichen Grundverantwortung für das Eisenbahnwesen der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes unterworfen. Im Hinblick auf die Befreiung von Verwaltungsgebühren sind jedoch beide Kompetenztitel nicht einschlägig.
ff) Verwaltungskompetenz nach Art. 87e I 1 GG
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Dem Bund wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich das Recht verliehen, die Voraussetzungen der Erhebung von Verwaltungsgebühren zu regeln. Von Ausnahmen abgesehen ist es gem. Art. 83, 84 I GG Sache der Länder das Verfahren der Landesbehörden und damit auch das Verwaltungsgebührenrecht festzulegen. Diese Befugnis umfasst auch die Auswahl darüber, wer von Verwaltungsgebühren freigestellt wird.[36] Allerdings könnte eine Verwaltungskompetenz des Bundes aus Art. 87e I 1 GG folgen. Danach wird die Eisenbahnverkehrsverwaltung für Eisenbahnen des Bundes in bundeseigener Verwaltung geführt. Hier ist aber zu beachten, dass das vorliegende Bundesgesetz nicht das Verwaltungsverfahren der Deutschen Bahn AG regelt, sondern die Gebührenpflicht für die Inanspruchnahme von Verwaltungsbehörden der Länder. Darüber hinaus gilt, dass die Gesetzgebungskompetenzen die Grenzen der Verwaltungskompetenzen festlegen. Fehlt dem Bund bereits die Gesetzgebungskompetenz, wie vorliegend festgestellt, dann kann seine Verwaltungskompetenz nicht darüber hinausgehen.[37] Folglich ist das Verwaltungsverfahren der Länder betroffen, so dass der Fall des Art. 87e GG nicht einschlägig ist. Eine Regelungsbefugnis des Bundes ist somit abzulehnen.
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