Mein liebes Mädel, ich habe heute nur doziert. Nun tue Du das Gleiche. Denn die geistige Auseinandersetzung gehört ebenso zu den Grundlagen fruchtbarer Gemeinschaft wie die notwendige Liebe. Dahin gehört auch die Anregung, mehr zu lesen, die ich einmal vor vielen Jahren von Bringfried bekommen habe. Wir sind auch für Leib und Geist vor Gott verantwortlich, nicht nur für die Seele.
Meine liebe Karin, mir fallen jetzt schon die Augen zu. Sei in Liebe gegrüßt und heiß geküsst von Deinem Ernst- Günther
Ich bin dein, du bist mein.
Des sollst du gewiss sein.
Du bist beschlossen in meinem Herzen.
Verloren ist das Schlüsselein.
Nun musst du immer darinnen sein!
Wernher von Tegernsee (1170)
St. Andreasberg, den 1. 11. 56 W
Mein geliebter Ernst-Günther! Es ist heute schon ½1 Uhr. Ich habe mich lange mit meiner Schwester unterhalten. Es ist eine Wohltat, uns ein bisschen auszuplaudern, wo wir uns so selten sehen. ...
Lieber Ernst-Günther, recht herzlichen Dank für Deinen Brief und das Gedichtchen, ich bin erstaunt, aus dem 12. Jhdt. Ein so kleines zartes Gedicht würde ein heutiger Dichter wohl kaum zustande kriegen. Ich habe ja über das Veilchen gestaunt, presst Du Blumen?
Jetzt zu Deiner Frage mit der Vogel-Strauß-Politik. Wie alt ist denn das Mädchen? Ich habe wohl vor einiger Zeit darüber nach- aber nicht zu Ende gedacht. Es ist eine heikle Angelegenheit, ob man jeden anderen Kontakt ablehnen soll, wenn man gebunden ist. Ich meine, es kommt auf die einzelnen Menschen an, manche lassen alles so zügellos dahin gehen, andere wissen genau, was sie voneinander zu halten haben und wollen nur Freundschaft, Verstehen und Vertrauen. ...
Mein lieber Ernst-Günther, ich werde jetzt schlafen gehen. Du Armer musst abends auch noch so lange sitzen. Aber die Zeit vergeht jetzt bestimmt schnell, kein halbes Jahr mehr. ... Lieber Ernst-Günther, sei recht herzlich geküsst von Deiner Karin
Berlin, den 4. 11. 56 W
Meine liebe Karin, wir sitzen stündlich vor dem Radio und verfolgen die erregenden Vorgänge auf der Erde, ein Geschehen, das sich von der Schilderung des jüngsten Tages kaum noch unterscheidet. Kein Mensch weiß, wie sich die Ereignisse ausdehnen werden. Vielleicht bricht morgen schon in der Zone ein Aufstand los und Berlin wird „zum Schutze der Volksdemokratie“ von den gleichen Panzern überrollt, die im Augenblick Budapest bombardieren.
Ich danke Dir für Deinen lieben Brief. Ein paar Worte zur Antwort: Nuddles Freundin ist 18 Jahre alt und groß im geistigen Durchdenken theoretischer Probleme, praktische Erfahrung fehlt völlig. So konnte sie zwar jene Frage stellen, aber zu einer befriedigenden Antwort fehlen ihr alle Voraussetzungen. Ich will versuchen, meine Ansicht dazu zu formulieren: Jeder Mensch sollte andere Kontakte haben dürfen, ob er gebunden ist oder nicht: Solange keine feste Bindung besteht, ist es eine Vogel-Strauß-Politik, wenn man nicht auch in anderer Richtung die Augen offen hält, aus Angst, einen stärkeren Eindruck zu empfangen. – Besteht aber eine feste Bindung (Versprechen, Verlöbnis und natürlich die Ehe), ist es mangelndes Vertrauen in die eigene Willenskraft, jeden anderen Kontakt abzulehnen. Ebenso ist es mangelndes Vertrauen zum Partner, ihm eifersüchtig alle anderen Kontakte zu überwachen oder zu beschneiden. Dabei muss man
1. ganz genau die Grenze wissen,
2. alle wertlosen Kontakte unterlassen bzw. abbrechen,
3. alle Kontakte eingehend mit dem Partner besprechen.
Dazu gehört, dass man in aller Offenheit miteinander spricht, wenn man einmal die Grenze überschritten hat, aber auch, dass jeder von beiden bereit ist, dem geliebten Partner solche Grenzüberschreitung zu vergeben, wenn es ihm wirklich Leid tut. Kein Mensch ist stets unfehlbar, und „Liebende leben von der Vergebung“. ... Ich schreibe all dies ja nur aus theoretischer Überlegung. Ich habe bisher nur einmal danach gehandelt und bin gut damit gefahren, als Ingrid um mich warb, obwohl ich mit Dietlind liiert war. Ich erzählte Dir davon. Ich weiß auch, dass in unserem Leben Dinge auf uns zukommen werden, die unbedingte Gemeinsamkeit fordern, denn wo Glaube ist, steht die Versuchung nicht fern. Wir werden gemeinsam auch diese Schwierigkeiten meistern.
Gestern holte ich die Tanzstunde nach, die ich neulich bei Dir versäumt habe. Doch die Mädchen in dieser Gruppe waren schauderhaft: aufgedonnert und plump-vertraulich. – Ich habe mich so nach Dir gesehnt, weil mir wieder bewusst wurde, weshalb ich Dich liebe: Deine gerade, offene Art, Deine natürliche Schönheit, Dein trotz des beweglichen Geistes unkompliziertes und ungekünsteltes Wesen, Deine Bereitschaft zu Dienst und Hilfe, wo es notwendig ist – es gibt halt nicht viele Mädchen Deiner Art. Deshalb bin ich ja auch immer wieder froh, dass wir uns gefunden haben. Und die Zeit, bis wir ganz füreinander da sein können, geht auch vorüber. ...
Geliebtes Mädel, ich grüße Dich von Herzen und sende Dir viele, viele Küsse, die auch von Herzen kommen, Dein Ernst-Günther
Wenn die Zeit auch schwer ist, wenn die Welt auch leer ist
an Liebe und an Gut, behalten wir den Mut
und lieben uns noch mehr. Dann ist es nicht so schwer.
Gemeinsam woll’n wir wagen, das was uns wird, zu tragen.
St. Andreasberg, den 6. 11. 56 W
Mein lieber Ernst-Günther! Du sollst zum Freitag noch Post von mir bekommen, da Du zum Wochenende nach Kassel fährst. ... Es ist furchtbar, was man über die schweren Kämpfe in Ungarn und Ägypten erfährt. Wir können ja nicht helfen, wir können nur immer wieder Gott bitten, dass er diesem Leid bald ein Ende machen möge und dass dieses Morden nicht noch größere Kreise in der Welt zieht. ... Wir können dankbar sein und uns freuen, solange wir davon verschont sind, denn wir wissen ja noch gut, was ein Krieg bedeutet.
So, nun mal etwas anderes. Ich habe in der letzten Zeit so eine Lust zum Basteln bekommen, vielleicht, weil es auf Weihnachten zu geht. Weißt Du, ich möchte mir jetzt ein kleines Blumenhockerchen bauen, mit drei Bambusbeinchen. Ich finde, das ist mal etwas anderes. Ich finde Bambus- und Bastsachen besonders schön. ...
Mein lieber Ernst-Günther, ich wünsche Dir eine gute Reise und dass Du dort auch etwas erreichst als einziger aus Berlin. Sei recht herzlich geküsst, mein Guter von Deiner Karin
Kassel, den 11. 11. 56 (Ansichtskarte) W
Meine liebe Karin, herzlichen Gruß aus Kassel. Die Stadt ist nicht besonders schön, aber vor lauter Arbeit und Tagung stört das nicht. Vielen Dank für Deinen Brief, der pünktlich am Freitag ankam. Es geht jetzt weiter, lass Dich herzlich grüßen, ich schreibe bald wieder aus Berlin. Dein Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 12. 11. 56 W
Mein lieber Ernst-Günther! Ich bin gerade aus dem Kino gekommen. „Tempel der Versuchung“ habe ich mir angesehen. Es handelt sich um die Geschichte vom Verlorenen Sohn. Der Film ist sehr packend und gibt einem viel zum Nachdenken auf. ... Nun endlich zu Deinem Brief. Recht herzlichen Dank und auch für das liebe Gedicht. Das hast Du doch sicher in schwerer Stimmung nach den Nachrichten geschrieben? Das kann ich mir gut vorstellen. Es sah ja in der letzten Zeit schlimm in der Welt aus. ... Lieber Ernst-Günther, Deine Karte aus Kassel habe ich heute früh erhalten, vielen Dank.
Deinen Brief an meine Eltern habe ich gelesen, ebenfalls den Brief, den meine Mutter an Dich geschrieben hat. Ich habe vor Magenschmerzen gar nichts essen können, wie albern, nicht wahr? ...
Ich überlege schon seit einiger Zeit, wenn ich mit Steno und Schreibmaschine einigermaßen perfekt bin, mir etwas in einer Stadt zu suchen. Als Ziel habe ich mir das Frühjahr gesetzt, früher wird es kaum etwas werden. Ich hatte schon an Hamburg gedacht, bevor ich dort bei Dir war. Falls Du nach dem Examen dort hin gehst, sollte etwas daraus werden. Leider hapert es da meist an einer Wohnung.
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