„»Darf ich?«, fragte ich vorsichtig.
»Bitte, junger Mann,« sagte die Frau, die mit großem Hut und ihrem eleganten Kleid aussah, als wäre sie gerade einem Film aus den Dreißigern entsprungen. Mit einer einladenden Geste deutete sie auf den Platz neben sich, ohne dabei den Blick von der Straße zu nehmen.
»Danke!«
Sie nickte nur beiläufig und behielt ihr Ziel im Auge.
Ich lehnte mich zurück, schaute mich um und endlich wurde mir klar, warum die Menge am Straßenrand verharrte und die Dame neben mir wie gebannt auf einen Punkt schaute.
Gegenüber der Parkanlage, auf einem mehrstöckigen Haus, turnte ein Mann auf dem Dach herum. Warum auch immer … Ich war der Meinung, es müsste sich um einen Künstler handeln. Entspannt betrachtete ich den Kerl auf dem Dach und grub mich noch ein wenig tiefer in das leicht vermoderte Holz.
»Meinen Sie, er springt?«
Mit Unverständnis betrachtete ich die Alte. Mir war die Frage suspekt.
»Er springt?«, flüsterte ich fragend.
Gerade, als sie antworten wollte, ertönten Sirenen. Kurze Zeit später wimmelte es nur so von Feuerwehrautos und Polizeiwagen. Die Straße wurde abgeriegelt und die protestierende Menge in den Park verwiesen. Uns sagte man nichts. Wahrscheinlich waren wir tarnfarben. Man ließ uns einfach auf der Parkbank sitzen. Quasi in der ersten Reihe, so als hätten wir die besten Plätze reserviert. Erst jetzt fiel mir auf, was es denn mit dem ganzen Tohuwabohu auf sich und was die Frau mir zu erklären versucht hatte.
Der Mann dort oben war kein Künstler. Niemand, der den Leuten zum Gefallen etwas präsentieren wollte. Der Typ hatte schlichtweg vor, sich das Leben zu nehmen.
Was für eine Ironie, schoss es mir durch den Kopf.
Der lange Mantel des Mannes auf dem Dach flog wie der Muleta eines Toreros hin und her. Nur dass der Mensch dort oben kein Matador war, sondern ein vor Aufregung zappelndes Nervenbündel.
»Mein Gott. Wie lange steht der denn schon da oben?«, fragte ich die Frau.
Sie schaute mich aus kleinen weisen Augen an, an deren Seiten sich tiefe Falten gebildet hatten.
»Ich sitze hier jeden Tag, junger Mann. Jeden Tag«, wiederholte sie. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Da war es wieder, dieses junger Mann . Als Endvierziger war ich mit Sicherheit kein junger Mann mehr, aber aus ihrer Sicht vielleicht schon. Auf jeden Fall hatte sie vergessen, meine Frage zu beantworten. Behutsam, um ihr nicht zu nahe zu treten, wiederholte ich freundlich die Frage: »Das glaube ich Ihnen gern. Wissen Sie denn, wie lange er schon da oben steht?«
»Ein paar Minuten.« Ihr Blick blieb auf mir haften.
Ich nickte und lächelte unsicher.
»Wieso?«, meinte sie.
Ich hatte immer gelernt, dass es keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten gab. Für den Moment begann ich daran zu zweifeln. Die Frage, warum ich fragte, machte doch gar keinen Sinn. Ich riss mich zusammen und antwortete: »Selbstmörder, die ihren Suizid als klares Vorhaben einstufen, beenden ihr Leben meistens direkt, ohne zu zögern. Der da«, ich deutete auf das Haus gegenüber, »macht mir nicht den Eindruck.«
Es war völlig verrückt. Jemand der einen Suizid begehen wollte, belehrte gerade eine alte Frau, dass Selbstmörder oft in Kurzschlussreaktionen handeln und das durch Zögern Denkmuster entstehen, die Zweifel hegen. Hätte ich ihr erzählt, dass ich gerade mit einem Fahrrad zur Ostsee fahre, um genau das Gleiche zu tun, wäre sie wahrscheinlich direkt gegangen. Ich verschwieg mein Vorhaben. Es tat eh nichts zur Sache.
»Sie kennen sich ja aus.«
»Nein. Ich finde nur, dass es logisch klingt.«
»Logisch?«, fragte sie entrüstet. »Sein Leben zu beenden ist nicht logisch. Es ist krank.«
Krank? Ich kannte sie nicht. Folglich konnte ich mir kein Urteil erlauben. Ich tippte einfach darauf, dass sie ein glückliches Leben geführt hatte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob man das als krank bezeichnen kann.«
Als sie gerade erneut etwas sagen wollte, kam Bewegung in die Szenerie. Auf dem Balkon, direkt unter dem Dach, sprach eine Frau mit dem gewillten Selbstmörder. Immer wieder hob und senkte sie die Arme. Man sah, dass der Mantelträger auf die Frau reagierte. Ständig unterbrach er seinen Gang und rief ihr etwas zu. Plötzlich tauchte ein Polizist hinter dem Mann auf. Ich fragte mich, wie dieser so schnell dort hingekommen war. Er war quasi aus dem Nichts aufgetaucht. Dann packte er den Mann am Kragen und zog ihn zurück auf das Flachdach. Andere Polizisten eilten herbei und hielten den Mann fest. Die Frau verschwand vom Balkon und auch die Beamten waren mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Ebenso der Suizidgefährdete. Der Spuk war vorbei. Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Menge hinter uns. Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass ein paar anwesende Sensationstouristen gerne einen Sprung gesehen hätten. Einfach, um sich daran aufzugeilen. Um zu sehen, wie der Körper auf den Asphalt kracht. Die Menschheit war durchzogen von Verdorbenheit.
»Zum Glück. Der arme Mann.« Die elegante alte Dame fiel förmlich in sich zusammen. Sie brach in Tränen aus.
»Hören Sie. Es ist alles gut. Alles ist gut«, erklärte ich ihr. Doch sie ließ ihrer Trauer freien Lauf. Und als sich die Menschenmassen schon längst verzogen hatten, saß ich immer noch neben ihr, den Arm um ihre Schulter gelegt und versuchte sie zu beruhigen.
»Es ist so schrecklich«, schluchzte sie, wobei ihr der weiße Hut vom Kopf fiel.
Ich hob ihn auf und klopfte ihn an meiner Jeans ab. Dann gab ich ihn ihr zurück und betrachtete sie genauer. Vor dreißig Jahren sah sie bestimmt wunderschön aus, dachte ich und riss mich damit selbst wieder in mein gewohnheitstypisches Loch.
»Danke!«
Sie nahm den Hut wieder an sich, steckte die Haare hoch und ließ sie unter der Kopfbedeckung wieder verschwinden. »Niemand sollte sein Leben so beenden.«
Im Grunde hatte sie mit dieser Aussage recht. Aber sie kannte den Mann nicht. Hinterfragte nicht seine Intention. Das Warum war hier von entscheidender Bedeutung. Dennoch wollte ich sie weder belehren noch eine Grundsatzdiskussion über Suizid anfangen.
»Ja,« sagte ich zögerlich. Aber wahrscheinlich so zögerlich, dass es ihr auffiel.
»Das klingt so, als hätten Sie eine andere Meinung.«
Fordernd schaute sie mich an. Die Trauer hatte einer gewissen Wut Platz gemacht.
»Grundsätzlich nicht, aber man muss immer sehen, was zu dieser Situation geführt hat.« Nun ließ ich mich dummerweise doch auf eine Diskussion ein.
»Die Situation kann noch so bedrückend sein. Wir haben einmal das Geschenk bekommen, auf diesem wundervollen Planeten sein zu dürfen. Ein zweites Mal wird es nicht geben.«
Da hatte sie recht. Ich war immer Realist gewesen. Zeit meines Lebens. An eine Wiedergeburt, das Leben nach dem Tod, in einem ach so schönen Paradies, glaubte ich nicht. Wer starb, der starb. Der Gedanke, dass die Seele ewig weiterleben würde, war mir suspekt.
»Gut«, gab ich zu. »Das kann natürlich sein, aber wer sich in den Tod stürzen will, der wird das nicht grundlos tun.«
Sie antwortete nicht, sondern grub ihr Gesicht wieder in die faltigen Hände.
»Okay. Natürlich ist es ein Fehler«, log ich, um die Dame zu beruhigen. Als sie weiter in dieser Position verharrte, legte ich nach. »Nicht immer hält die Ellenbogengesellschaft einen Platz für die bereit, die durchs Raster gefallen sind. Wer weiß, vielleicht war dieser Mann einer von denen, die es nicht geschafft haben, sich einen Platz zu sichern. Oh«, stockte ich. » Ist dieser Mann, muss es natürlich heißen, nicht war . Es ist glücklicherweise nichts passiert.«
Endlich ließ die Frau ihre Hände sinken. Sie starrte geradewegs auf das Haus, auf dem eben noch der Mann stand. Sie hielt die Augen offen, ohne zu zwinkern, als wäre sie mit ihren Erinnerungen in einer anderen Zeit.
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