Kay Rivers
Katja Freeh
u.a.
ENDE GUT, ALLES GUT
Romantische Weihnachtsgeschichten
© 2020
édition el!es
www.elles.deinfo@elles.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-336-4
Coverfoto:
iStock.com/cdwheatley
Coverillustration:
iStock.com/Nastco
Abbildung »Marktpyramide« ist eine Abwandlung des Fotos »Ortspyramide Annaberg-Buchholz« von Yvonne Bentele, CC BY-SA 4.0 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:2009-12_Ortspyramide_Annaberg-B.jpg
Kay Rivers
Kastanien im Feuer
»An Weihnachten ist hier die Hölle los!«, erklärte Michelle ungehalten. »Da kommt ganz Amerika zu uns nach Disneyland . Und der halbe Rest der Welt auch noch. Da kann ich nicht privat Weihnachten feiern! Dafür habe ich gar keine Zeit.«
Cindy betrachtete sie nachdenklich. Sie wusste, dass sie jetzt nicht weiter über das Thema sprechen konnte, wenn Michelle in so einer Stimmung war. Wahrscheinlich hatte sie noch nie richtig Weihnachten gefeiert, da sie ja auch keine Familie hatte, aber Cindy war der Meinung, Weihnachten zu feiern gehörte einfach dazu. In ihrer Familie war es immer so üblich gewesen, und sie erinnerte sich gern daran.
»Du musst dich auch einmal ausruhen«, versuchte sie, Michelle zu beruhigen, weil sie sich meist immer noch mehr aufregte, wenn sie einmal am Drehen war.
»Aber doch nicht zu Weihnachten!« Michelle blitzte sie an. »Das ist eine der wichtigsten Geschäftszeiten im Jahr. Wenn nicht die wichtigste überhaupt. Die Umsatzzahlen erreichen wir sonst praktisch nie.«
Ja, das Geschäft. Der Umsatz . . . Cindy seufzte innerlich. Man hätte meinen können, Disney gehörte Michelle persönlich, so, wie sie sich für den Geschäftsgang einsetzte. »Natürlich«, sagte sie besänftigend. »Das weiß ich.«
»Aber du verstehst es offensichtlich nicht.« Auch Michelle versuchte anscheinend, sich zu beruhigen und nicht mehr so gereizt mit Cindy zu sprechen, wie sie es zuvor getan hatte. Sie begann sogar entschuldigend zu lächeln und trat auf Cindy zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr tief in die Augen. »Wir können das nachholen. Nach Weihnachten. Wenn es hier wieder ruhiger ist«, sagte sie leise, und ihre Stimme klang jetzt eher warm als gereizt. »Aber direkt an Weihnachten Weihnachten feiern . . . Das geht einfach nicht. Da muss ich fast vierundzwanzig Stunden am Tag hier sein und arbeiten.«
An Weihnachten Weihnachten feiern geht nicht. Cindy fragte sich, ob sie je so etwas Widersinniges gehört hatte. Vermutlich gab es eine ganze Menge Leute, die an Weihnachten arbeiten mussten, aber darüber hatte sie noch nie nachgedacht. Allerdings hatte sie ja auch noch nie durchgehend außerhalb der Uni gearbeitet, höchstens in den Semesterferien. Ganz sicher aber nicht an Weihnachten. Die Tage gehörten ihrer Familie. Bisher ihrer Familie in Florida, aber jetzt war ihre Familie hier in Kalifornien, bei Michelle. Mit Michelle.
»Du meinst nicht . . . Wenigstens ein paar Stunden . . .?« Sie verstand ja, dass Michelle für den Park sehr eingespannt war, wenn viele Leute kamen. Und das war an Weihnachten nun einmal der Fall. Aber das konnte doch nicht bedeuten, dass es für sie beide überhaupt kein Weihnachtsfest geben würde. Ihr erstes gemeinsames Weihnachtsfest überhaupt.
Entschieden schüttelte Michelle den Kopf. »Nein. Noch nicht einmal ein paar Stunden.« Sie lächelte Cindy um Verzeihung bittend an und verzog ein wenig das Gesicht. »Danach können wir nach Colorado fliegen und ein bisschen Skifahren oder was immer du willst«, bot sie als Entschädigung an. »Aber Weihnachten ist Arbeitszeit. Hochsaison. Keine Zeit, um zu feiern.«
Das hatte Cindy bisher immer anders gesehen. Aber sie konnte an Michelles Einstellung im Moment wohl nichts ändern. Für sie war das seit vielen Jahren die Realität, das Normale. Wahrscheinlich konnte sie es sich gar nicht anders vorstellen.
»Flieg doch zu deiner Mutter«, schlug Michelle jetzt vor, während sie schon zu ihrem Schreibtisch zurückging, von dem sie sich nur widerwillig für eine Minute getrennt hatte, um mit Cindy zu reden. »Sie erwartet dich doch bestimmt zu Weihnachten. Dann könnt ihr dort ein schönes Fest feiern, und danach feiern wir in Colorado.« Sie lächelte leicht geistesabwesend zu Cindy herüber, weil ihr Blick bereits wieder von irgendwelchen Vorgängen auf ihrem Bildschirm gefangen war.
Voller ungläubigem Entsetzen, das sie nicht verstecken konnte, auch wenn sie das gewollt hätte, schaute Cindy sie an, als sie sich vorstellte, was die Konsequenzen dieser Entscheidung wären. »Ich wäre dann zu Weihnachten in Florida und du hier in Kalifornien?« Was schlug Michelle ihr da vor?
»Du wärst bei deiner Mutter«, hielt Michelle dagegen. »Da würde ich ja sowieso nur stören.«
Protestierend schüttelte Cindy den Kopf. »Wie kommst du denn darauf? Meine Mutter würde sich sehr freuen, wenn du kommst. Wenn sie endlich einmal wieder ein richtiges Familienfest zu Weihnachten hat.«
Skeptisch blickte Michelle sie an. »Ich weiß, euch bedeutet Familie sehr viel. Aber für mich . . .« Sie zuckte die Schultern »Ich weiß nicht, was das ist. Ich kenne das alles nicht.«
»Aber deshalb wäre es doch schön, wenn du es einmal kennenlernen würdest.« Mittlerweile war Cindy schon ziemlich verzweifelt.
Die Alternativen waren also entweder: Sie flog nach Florida und war dort zwar mit ihrer Mutter zusammen, aber trotzdem in gewisser Weise allein, weil Michelle nicht da war. Oder sie blieb hier bei Michelle, sah sie vermutlich so gut wie gar nicht, sah ihre Mutter auch nicht, und hatte vielleicht sogar ein noch einsameres Weihnachtsfest.
Das hatte sie sich ein bisschen anders vorgestellt, als sie Michelle geheiratet hatte. Sie wünschte sich ein Familienleben, wie es andere Leute hatten. Aber das war mit Michelle so gut wie nicht möglich.
»Gut«, seufzte sie. »Dann werde ich wohl meine Mutter anrufen. Mal sehen, was sie sagt.«
»Ja, tu das.« Michelle antwortete nur abwesend murmelnd, denn ihre Augen hingen jetzt endgültig am Bildschirm ihres Computers, wo sie irgendwelche Tabellen überprüfte, und sie hatte wahrscheinlich fast schon vergessen, dass Cindy überhaupt da war.
»S»o etwas hatte ich fast schon ein bisschen befürchtet.« Cindys Mutter Lindsay Ann seufzte. »Sie ist nun einmal so. Normalerweise kennt man das ja eher von Männern, aber sie . . .«, tief holte sie Luft, »ist eben eine besondere Frau.«
»Sie ist meine Frau, Mum«, erwiderte Cindy etwas gereizt. »Auch wenn du das vielleicht nicht verstehst.«
»Aber ich verstehe dich doch.« Lindsay Ann Claybourne lachte. »Wieso sollte ich nicht? Sie ist eine sehr schöne Frau, eine sehr erfolgreiche Frau und außerdem die Frau, die du liebst. Ich mag sie ja auch. Wie kommst du darauf, das wäre nicht so?«
»Sie liebt mich auch.« Das musste Cindy noch erwähnen, denn das hatte ihre Mutter in der Aufzählung vergessen. »Aber ihr Job ist eben . . .« Beinah schicksalsergeben atmete sie durch. »Den kennt sie schon länger als mich. Viel länger.«
»Und deshalb hat er ältere Rechte, meinst du? Nein, nein.« Ihre Mutter schüttelte heftig den Kopf, was Cindy auf dem Bildschirm ihres Smartphones sah. »So funktioniert das nicht. Wenn man verheiratet ist, dann gibt es einfach Tage, die gehören der Familie. So war es immer.«
»Sie hatte nie eine Familie«, wandte Cindy Michelle in Schutz nehmend ein. »Sie kennt das nicht.«
»Das ist keine Entschuldigung.« In so etwas verstand Lindsay Ann keinen Spaß. »Mag ja sein, dass sie nie eine hatte, aber jetzt hat sie eine. Zumindest dich. Wenn sie mich nicht dazuzählt. Und John.«
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