Oder mein Kreislauf versagte schon.
So genau konnte ich es nicht sagen, aber es war wenigstens eine kleine Entschuldigung dafür, dass ich beinahe einen Mann umfuhr.
Ich bremste, hätte es aber nicht mehr geschafft, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, doch der Mann hatte hervorragende Reflexe und sprang von der Straße ins Unterholz.
Als das Fahrrad endlich anhielt, sprang ich ab und wollte nach dem Rechten sehen, doch meine Beine machten nicht mehr mit.
Plötzlich hatte ich stechende Schmerzen und schien keinen Schritt mehr machen zu können.
Meine Augen flimmerten und die hellen und dunklen Flecken blieben. Schien vielleicht doch der Kreislauf zu sein.
Der Mann kam wieder auf die Straße und jetzt bemerkte ich erst, dass es zwei waren. Oder sah ich schon doppelt oder halluzinierte?
Ich richtete mich auf Ärger ein, wollte eine Entschuldigung brabbeln, aber mein Mund war plötzlich so ausgetrocknet wie die Wüste Gobi und meine Zunge schien auf die doppelte Größe angewachsen zu sein.
»Ich, also ich...«, schaffte ich doch noch irgendwie, dann versagten mir meine Beine völlig den Dienst.
Ich sah noch den staubigen Asphalt auf mich zukommen, dann wurde es dunkel.
Ich erwachte. Jedenfalls glaubte ich es. Vorsichtig öffnete ich die Augen, doch die Dunkelheit blieb.
Ich bemerkte, dass ich nicht mehr auf dem asphaltierten Feldweg lag, sondern auf weichem Waldboden. Jemand hatte mir meine Tasche als Kissen unter meinen Kopf geschoben und mich mit meiner Jacke zugedeckt.
Eigentlich ganz gemütlich, trotzdem wollte irgendetwas in mir wissen, was hier vor sich ging.
Vorsichtig richtete ich mich auf und sah nicht weit von mir zwei Gestalten sitzen. Offensichtlich hatte man nicht vor, mich zu berauben, denn auch mein Fahrrad stand in der Nähe.
Ich zog die Beine an und ging in die Hocke. Es war Nacht, aber Sterne und Mond lugten durch Baumkronen und ich konnte die Szenerie überblicken.
Mein Stöhnen blieb nicht ungehört und einer der Männer blickte zu mir herüber.
»Oh«, machte er nur und stupste seinen Kameraden an. »Unser Patient ist erwacht.« Er grinste und im Mondlicht blitzten seine strahlend weißen Zähne.
»Komm rüber, setz dich zu uns«, forderte der andere mich auf und ich kam seinem Wunsch nach.
Wieder stöhnte ich, als meine Knie knackend protestierten und meine Oberschenkelmuskulatur in Flammen aufging.
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, schleppte mich näher an die beiden heran und ließ mich sofort wieder fallen, wie ein nasser Sack.
»Wie geht es dir?«, fragte einer der beiden und ich versuchte cool abzuwinken. »Muss«, sagte ich knapp, aber sie brauchten keine Hellseher zu sein, um meine Lüge zu durchschauen.
Ich musterte meine Retter und wunderte mich gleichzeitig über diese völlig irreale Situation. Normalerweise hätte mir die Begegnung mit Fremden Unbehagen bereiten müssen. Noch vor ein paar Stunden hätte ich vermutlich Angst gehabt. Jetzt war ich vollkommen ruhig. Was sollte mir auch schon passieren? Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen. Nichts konnte mir etwas anhaben. War das eine seltsame Art von Freiheit?
Mir fiel ein alter Song ein. Me and Bobby McGee von der genialen, viel zu früh verstorbenen Janis Joplin. Okay, eigentlich hatte Kris Kristofferson das Ding verbrochen, aber die Version von Janis war die bekanntere. Schwamm drüber!
Freedom's just another word for nothing left to lose, heißt es darin.
Hatte ich diese Freiheit erreicht, weil ich wirklich nichts mehr zu verlieren hatte? Außer dem bisschen Leben natürlich.
Meine Gedanken kreisten.
»Kannst du auch reden?«, wurde ich wieder angesprochen. Ich war in letzter Zeit so wenig unter Leuten gewesen, dass es mir gar nicht mehr auffiel, dass ich nur in Gedanken unterwegs war.
»Doch, doch«, machte ich dann nur und blickte mich um. Jetzt erst bemerkte ich vier Balken, die senkrecht in die Höhe wuchsen und weit über mir eine Decke aus Holzbrettern.
»Das ist ein Hochstand, für die Jagd«, meinte einer meiner neuen Freunde, der meinen ratlosen Blick bemerkt hatte.
Langsam fand ich meine Stimme wieder. »Danke, dass ihr mir geholfen habt«, sagte ich und fand es gar nicht mehr seltsam wildfremde Menschen zu duzen.
Jetzt hatte ich die Gelegenheit, meine Retter näher zu betrachten. Der eine war klein, aber unglaublich kräftig gebaut. Mit blonden kurzen Haaren und einem gestutzten Vollbart. Der Zweite war hager und groß, mit einer lockigen Matte, wie Wolle Petry zu seinen besten Zeiten und einem wilden Vollbart, der ihm bis auf die Brust fiel. Beide trugen schwarze Cordhosen, weiße Hemden unter einer schwarzen Weste, grobe Schuhe und breitkrempige Hüte lagen an ihren Seiten.
»Ihr seid auf der Walz«, es war keine Frage von mir, sondern eine Feststellung und ich war verdammt stolz auf meine Scharfsinnigkeit.
Der Blonde nickte und zeigte wieder sein Zahnpastalächeln. »Wenn das die eine Million Euro Frage gewesen wäre, dann bräuchtest du dir über deine finanzielle Situation jetzt keine Gedanken mehr zu machen.«
»Ich dachte so etwas gibt es gar nicht mehr«, meinte ich und fühlte mich sofort gar nicht mehr so klug.
»Ist ein aussterbender Brauch«, meinte der Lockige mit einer tiefen Bassstimme. »Aber wir halten die Fahne hoch.« Er streckte mir die Hand hin. »Ich bin Hans Zimmer, der Zimmermann«, meinte er und bellte lachend.
»Hans Zimmer, der Zimmermann«, wiederholte ich doof.
»Ist tatsächlich wahr«, meinte sein Kumpel. »Und er hängt den Zimmermann immer an, damit er nicht mit dem erfolgreichen Filmkomponisten verwechselt wird.«
Okay, von dem hatte sogar ich schon mal gehört.
»Ich bin übrigens Franz Heese«, ergänzte der Blonde und jetzt musste ich tatsächlich schmunzeln.
»Hans und Franz«, ich konnte es kaum fassen.
»Ja«, grinste der Schlacks. »Wie die Möpse von Heidi Klum.« Und wieder ließ er sein bellendes Lachen hören.
Wenigstens würde er damit eventuelle wilde Tiere in die Flucht jagen.
»Ich bin Simon«, stellte ich mich vor. »Simon Winkel.«
Ich schüttelte beiden die Hand.
Der Blonde zeigte auf einen kleinen Gaskocher, der vor ihm stand und hielt plötzlich, wie von Geisterhand, eine kleine Dose Ravioli in den Fingern.
»Hunger?«
Mein Magen knurrte zur Antwort, lauter als das Lachen des Lockigen. Mein letztes Mahl war der Kuchen der netten Bauersleute gewesen und das schien Jahre her.
Er öffnete die Dose, schnippte den Gaskocher an und platzierte den Blechbehälter darauf.
»Du bist auf der Reise?«, keine Frage des Blonden, sondern ebenfalls eine Feststellung. Er deutete auf meine Tasche. »Sorry«, sagte er, »aber wir haben deine Sachen durchsucht, weil wir wissen wollten, ob du irgendwelche Krankheiten hast und Tabletten brauchst.« Sein Kumpel lachte. »Dann haben wir dein Medikamentensammelsurium entdeckt und, da wir beide nicht Medizin studiert haben, beschlossen wir, dir nichts zu geben.« Er wurde ernst. »Aber du solltest vielleicht mal deinen Zucker messen.« Hans zuckte die Achseln. »Meine Mutter ist auch Diabetikerin und ich weiß, dass damit nicht zu spaßen ist.«
»Nach dem Essen«, meinte ich und erinnerte meine Freunde an die Dose, die mittlerweile einen angenehmen Geruch verströmte.
Franz stellte den Kocher aus, wickelte das heiße Blech in einen Lappen und reichte es mir, nebst Löffel.
»Ist meiner«, sagte er entschuldigend, »wir waren nicht auf Besuch eingestellt, sonst hätten wir das gute Porzellan mitgenommen.« Er grinste wieder. »Ich hab keine ansteckende Krankheiten«, meinte er noch.
Ich nickte nur freundlich und begann damit, die Nudeltaschen in mich hineinzuschaufeln. Es war kein First-Class Menü, aber es war warm und sättigte. Herz, was willst du mehr.
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