Somit hatte Ansgar, ohne es zu wollen, bei mir einen wunden Punkt getroffen. Ich spielte weiter den netten Gast, ließ ihn reden, wobei ich mir wirklich Mühe gab, seine Errungenschaften als erreichtes Ziel zu würdigen. Doch wie so oft sprach mein Kopf eine andere Sprache wie die, die aus meinem Mund kam. Und in diesem Fall tat es mir leid, weil sich die beiden wirklich Mühe gaben gute Gastgeber zu sein. Mir wurde mit einem Schlag bewusst, warum ich diese Reise angetreten hatte und warum ich dem Ganzen ein Ende setzen musste. Ich war einfach ein Griesgram, sah nur das Schlechte und bemühte mich gut zu sein. Alles verstellt, nicht echt. Ich lebte eine Lüge.
Als ich wieder losfuhr, standen Sandra und Ansgar eng umschlungen vor der Haustür und winkten mir zum Abschied.
»Vielen Dank für den Kuchen, den Kaffee und das Aufladen«, rief ich zurück.
Der Weg Richtung Ende hatte mich wieder. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, einmal das Gute im Menschen zu sehen, hatte sich durch meine schlechten Gedanken in Luft aufgelöst. Gedanken: Schranken in meinem Kopf. Die mein Leben bestimmten und mir nicht die Wahl ließen, frei oder einfach nur ich zu sein.
Ich trat kräftig in die Pedale, um möglichst viel Raum zwischen mich und die Waldhausens zu bringen. Ich floh förmlich aus ihrer heilen Welt, die mir all das gezeigt hatte, was ich nicht hatte und nie haben würde.
Meter um Meter brachten mich weg von Dingen, die sich mir nie erschlossen hatten.
War es doch Neid? Warum hatten manche Menschen einfach nur Glück und anderen schien das Pech für immer an den Schuhen zu kleben?
Mir fiel dieses blödsinnige Märchen ein, indem Goldmarie und Pechmarie ihr Unwesen trieben. War es Frau Holle gewesen? Ich konnte es nicht mehr genau sagen. Ich wusste nur noch, dass die Moral der Geschichte war, dass man sich Glück erarbeiten musste.
Aber war das wirklich so? Hatte ich nicht alles versucht, um ein brauchbares Mitglied dieser Gesellschaft zu werden?
Oder war uns alles vorbestimmt? War unser Weg von unserer Geburt an festgelegt? Ein schöner und einfacher Gedanke. Denn wenn es so wäre, dann könnte man die Hände in den Schoß legen und sagen: Ich kann überhaupt nichts für meine Misere. Dieses miese Schicksal ist schuld.
Doch so war ich nicht. Im Gegenteil. Jede meiner Handlungen, die zu meinem traurigen Dasein geführt hatten, hatte ich tausendfach hinterfragt. Und mir immer wieder eingestehen müssen, dass ich an Weggabelungen oft die falsche Abzweigung genommen hatte.
Der Gedanke erinnerte mich an mein aktuelles Problem. Ich hatte meine Flucht vor der heilen Welt recht kopflos angetreten und als ich jetzt etwas langsamer fuhr, bemerkte ich, dass ich nicht den kleinsten Schimmer hatte, wo ich mich befand.
Ich hielt an und blickte mich um.
Aber auch das brachte mich nicht weiter. Keine Schilder in Sicht, nur ein asphaltierter Feldweg, Felder, Wiesen und ein kleines Wäldchen.
Ich stieg vom Rad und bemerkte erstaunt, dass mir jetzt schon mein verlängertes Rückgrat wehtat. Dabei war ich, summa summarum, noch keine zwei Stunden im Sattel. Wie hielten das diese Irren bei der Tour de France eigentlich aus? Klar, Doping. Eine Sache, die mir, trotz aller Medikamente, die ich mit mir führte, nicht zur Verfügung stand.
Ich angelte meine Tasche aus dem Fahrradanhänger, nahm eine Flasche Wasser heraus und tat einen kräftigen Schluck. Dann blickte ich mich noch einmal um.
Was, zum Henker, tat ich hier eigentlich? Welcher Wahnsinn hatte von mir Besitz ergriffen? Wollte ich tatsächlich 600 Kilometer bis zur Ostsee radeln?
Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder im Griff hatte.
Nein, diese Distanz wollte ich nicht auf diesem unbequemen Sattel zurücklegen. Ich hatte nur einfach losgewollt und mich unüberlegt auf den Weg gemacht.
In zwei oder drei Tagen würde neues Geld auf meinem Konto sein und dann würde ich die restliche Strecke mit der Bahn zurücklegen.
Was in meiner jetzigen Situation aber bedeutete, dass ich noch mindestens zwei Tage und, was noch viel schlimmer war, zwei Nächte unterwegs sein würde.
Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Um bei der Wahrheit zu bleiben: Nichts!
Trotzdem wollte ich erfahren, wo ich mich eigentlich befand und angelte mein Handy aus der Tasche.
Es war ein relativ neues Modell, erst drei Monate alt und die Akkulaufzeit war zum Glück noch in Ordnung. Stand jetzt 94%. Aber ich hatte auch noch eine Powerbank bei mir, die mir noch drei oder viermaliges Aufladen gestattete. Des Handys natürlich, für das E-Bike würde es nicht reichen.
Ich schaltete Google Maps, nebst GPS ein und erfuhr schnell, dass ich mich auf dem Weg nach Krefeld befand.
Okay, dafür musste ich noch fünfzehn Kilometer hinter mich bringen, aber die grobe Richtung stimmte schon mal.
Und von Krefeld an die Ostsee war es ja quasi nur noch ein Katzensprung.
Ich durchsuchte noch einmal meine hastig gepackte Tasche. Zwei T-Shirts, eine kurze Hose, Unterwäsche, Ladegerät fürs Handy, eine Jacke, Kekse und jetzt nur noch eineinhalb Flaschen Wasser.
Ich überlegte kurz, ob ich meine lange Jeans gegen die kurze Hose tauschen sollte, entschied mich aber dagegen.
Noch ein kurzer Schluck aus der Flasche und dann wieder zurück in den Sattel.
Mein Hintern protestierte sofort, aber auf Einzelschicksale konnte ich keine Rücksicht nehmen.
Mein Handy gab die Richtung vor und ich folgte.
Ich achtete nicht darauf wie viele Kilometer ich schaffte, wollte mich nicht selbst entmutigen. Natürlich war ein E-Bike bequemer zu fahren als ein gewöhnlicher Drahtesel, aber ich musste mir selbst eingestehen, dass mich dennoch jeder Tritt anstrengte. In den letzten Jahren war die größte Entfernung, die ich zurückgelegt hatte, die Meter zwischen Couch und Kühlschrank gewesen. Kondition hatte ich dabei nicht aufgebaut.
Eine Dame mit Hund kam mir entgegen und sie musste schon von weitem mein Keuchen gehört haben. Sie hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf, sondern rief mir nur ein besorgtes: »Geht es Ihnen gut?«, zu.
Ich winkte nur, unfähig zu sprechen und quälte mich an ihr und ihrem mitleidig blickenden Hund vorbei.
Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Bin unterwegs zur Ostsee, um mein Leben zu beenden?
Sie hätte mir nicht geglaubt. Sah ich doch eher danach aus als würde ich schon in den nächsten fünf Minuten tot vom Fahrrad fallen.
Als die Dame nicht mehr zu sehen war, ging ich noch weiter vom Gas.
Nur ganz anhalten wollte ich nicht, weil mir klar war, dass ich dann nie wieder weiterfahren würde.
Trotzdem wurde mein Gehirn wieder etwas besser mit Sauerstoff versorgt und sofort meldete es Probleme an.
Es konnte nicht ewig dauern, bis es dunkel wurde und ich musste eine billige Unterkunft finden. Mit fünfzig Euro schied eine Suite im Hilton jedenfalls aus.
Ich kam jetzt an vereinzelten Häusern vorbei, Vorboten vom wunderschönen Krefeld Forstwald.
Ich war noch niemals hier gewesen, es sah jedoch nicht so aus, als würde hier Gasthaus an Gasthaus und Hotel an Hotel stehen. Ich fürchtete es gab nicht einmal eine Jugendherberge.
Mir war allerdings auch klar, dass ich heute nicht weiterkommen würde. Meine Oberschenkel schmerzten. Meine Arme zitterten so stark, dass ich Schlangenlinien fuhr und mein Gesicht brannte von Sonne und Fahrtwind. Nur mein Hintern meldete sich seit gut einer Stunde nicht mehr. Wahrscheinlich war er abgestorben.
Sollte ich einfach anhalten, an einer Tür klingeln und nach einer Bleibe für eine Nacht fragen?
Die würde ich sicherlich bekommen. Allerdings in einer Polizeizelle.
Schon wurden die Häuser wieder spärlicher und ich durchfuhr ein kleines Waldstück. Der Schatten tat gut, ein kühles Lüftchen wehte, nur die Sicht war nicht besonders gut, weil sich helle und dunkle Flecken stetig abwechselten.
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