Es waren im Großen und Ganzen Kündigungen. Ich war ein ordentlicher Mensch und wollte geregelt aus dem Leben scheiden.
Meine Versicherungen wussten wahrscheinlich gar nicht, dass es mich gab, also verloren sie einen guten Kunden. Mein Chef, der mich in den letzten drei Jahren vielleicht einen Monat lang gesehen hatte, würde drei Kreuzzeichen machen, dass er mich endlich von der Backe hatte. Und mein Vermieter würde eine Flasche Sekt köpfen, denn irgendwie hatte er sein Geld in letzter Zeit auch sehr unregelmäßig bekommen. Da war bei mir so ein bisschen der Schlendrian eingekehrt.
Egal. Ich griff nach meiner Jacke, ließ sie dann aber doch am Haken. Wir hatten Mai und wenn der Tag mit dem gestrigen mithalten konnte, dann hatten wir jetzt bestimmt schon über zwanzig Grad.
Also nur Schuhe, Schlüssel in die Tasche, Portemonnaie und ab dafür.
Ich hatte die Haustüre noch in der Hand, als eine Person in meinem Rücken auftauchte.
Es war Sascha, der Sohn meines Vermieters und er zog gerade sein sündhaft teures E-Bike aus der Garage. Inklusive Minihänger.
Ich wusste, was er vorhatte, schließlich kannten wir uns lange genug. Und ich wusste auch, dass er sich ärgern würde, wenn ich ihn darauf ansprach.
Also musste ich es tun.
»Na, bringt uns der Postbote die neusten Blättchen und Angebotsflyer vorbei«, sagte ich und putzte ihm damit kurzfristig das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht.
Eigentlich war es Blödsinn, was ich hier machte, schließlich war ich ein Erwachsener, der mitten daneben stand und der Typ vor mir nur ein siebzehnjähriges Pubertier.
»Mein Alter will eben, dass ich ein wenig mein Taschengeld aufbessere«, sagte er, ein wenig zerknirscht.
Weil es die halbe Wahrheit war. Sein Taschengeld war mehr als üppig und hätte für wesentlich mehr als einen Monat gereicht. Er musste nichts dazuverdienen. Aber sein alter Herr bestand darauf. »Arbeit hat noch niemandem geschadet«, war seine Devise und deshalb musste sich sein armer, reicher Sohn jetzt mit Zeitung austragen, den Tag versauen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte mein jugendlicher Freund. »Ich bin in spätestens einer Viertelstunde wieder da.«
Leider wusste ich, dass auch dies stimmte. Der Vogel holte die Zeitungen an der Sammelstelle ab, dann fuhr er, ohne sich die Mühe zu machen auch nur eine auszuliefern, zu einem Altpapiercontainer und warf die gesammelten Werke hinein.
Eine Beschwerde würde nicht kommen, denn sowohl der Auftraggeber als auch alle Empfänger des kostenlosen Blättchens wussten, wer die Zeitungen nicht lieferte. Sie kannten den nachtragenden Vater des Filius und wollten alle ihre Wohnungen behalten. Denn Herrn Baumeister, Saschas Vater, gehörte die komplette Siedlung.
Mich konnte das nicht mehr belasten und ich wollte schon eine weitere bissige Bemerkung loswerden, doch der Jugendliche kam mir zuvor.
Auch sein überhebliches Grinsen war wieder da und spätestens das hätte mich warnen sollen.
»Ach übrigens«, sagte Baumeister Junior. »Schön, dass wir beiden mal so nett plaudern.« Das Grinsen wurde breiter. »Hat mein Alter eigentlich schon mit dir gesprochen?«
Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte und zuckte nur blöd die Achseln.
»Ich werde ja bald achtzehn, weißt du«, fuhr er fort, als wäre sein Geburtstag ein gesetzlicher Feiertag und bei jedem fest im Kalender verankert. »Und da brauche ich ja ne eigene Bude. Leider ist bei uns gerade nichts frei und da dachte mein Lieblingsdad, dass ich deine haben könnte. Schließlich zahlst du die Miete nicht pünktlich und dann gibt es ja noch Eigenbedarf und so.« Wenn er keine Ohren hätte, dann hätte er jetzt im Kreis gegrinst.
Ich hatte die Kündigung für die Bude im Umschlag in meiner Hand, trotzdem begann ich mich kurzfristig zu ärgern. Sollte ich meine Pläne ändern und mich in meinen bisherigen vier Wänden umbringen? Alles so richtig schön versauen und meinen Abschiedsbrief noch einmal ändern? Mit dem Passus: Ihr wolltet mir meine Heimat wegnehmen, meine Wohnung, meinen Anker und Lebensmittelpunkt.
Ich blickte in das Gesicht vor mir und wusste, dass es diesen Typen keine schlaflose Minute gekostet hätte.
Es war schwer, meine Wut niederzuringen. Weil ich ihn in diesem Moment hasste. Vielleicht für sein Glück aus reichem Haus zu kommen, von Beruf Sohn sozusagen. Oder für seine Jugend, seine Gesundheit. Oder einfach für sein gutes Aussehen und dafür, dass er jedes Wochenende mit einem anderen Mädel im Arm erschien. Wahrscheinlich war es, wie es Dieter Bohlen ausdrücken würde, das Gesamtpaket.
»Hat es dir die Stimme verschlagen«, hetzte der Junge vor mir und plötzlich war ich wieder die Ruhe selbst.
Ich hatte alles geregelt und einen unumstößlichen Plan, den ich sicherlich nicht für diesen Idioten ändern würde.
Ich sah in den Packen Briefumschläge, reichte ihm den mit der Kündigung und jetzt war ich es, der lächelte.
»Weißt du was?«, fragte ich ihn. »Wie wäre es, wenn du schon morgen einziehst?«
Und damit ging ich und ließ ihn verwirrt zurück.
Meine Schritte führten mich auf alt bekannte Pfade. Der kleine Schlenker zum Briefkasten war neu, aber die restliche Wegstrecke kannte ich genau. Jede Bürgersteigplatte, jede Bodenunebenheit, denn diese Straße hatte ich tausendmal beschritten. Ich endete vor einem großen, weißen Klinkerbau mit dem nicht zu übersehenden Messingschild.
»Dr. med. Markus Winzen« war darauf zu lesen. Mein Hausarzt, mein Vertrauter und fast so etwas wie ein Freund. Jedenfalls sah ich ihn öfter, als jeden anderen meiner Bekannten.
Ich öffnete die Tür, ging den Hausflur entlang und schnurstracks auf den Eingang der Praxis zu.
Am Empfang saß Melanie, sie konnte mich nicht leiden, wahrscheinlich hielt sie mich für einen Simulanten. Und seitdem sie mich irgendwie herablassend behandelte, beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit.
»Ach, der Herr Winkel beehrt uns mal wieder«, empfing sie mich süffisant. »Wo drückt denn diesmal der Schuh?«
»Das würde ich doch lieber mit einem Doktor besprechen«, meinte ich nur.
Das Wartezimmer war tatsächlich leer. Ich hatte einen guten Zeitpunkt erwischt. Als wüsste das Schicksal, dass ich es heute eilig hatte.
»Dann setzen Sie sich doch erst einmal ins Warte ...«
Ich ließ sie nicht aussprechen. »Machen Sie sich mal keine Umstände. Ich gehe direkt durch.«
Ich pokerte hoch. Es hätte auch noch ein Patient im Behandlungsraum sein können, doch ich riss einfach die Tür auf und trat ein.
Markus Winzen saß auf seinem Ledersessel, die Füße auf dem Schreibtisch und schlürfte geräuschvoll Kaffee. Als er die Türe hörte, drehte sich sein Kopf schnell in meine Richtung und beinahe wäre ihm die Tasse aus der Hand gefallen.
»Simon«, begrüßte er mich. »Haben wir heute einen Termin?« Sein Blick fiel auf den Computermonitor. »Ich dachte eigentlich, ich hätte jetzt eine halbe Stunde Pause.«
Ich wartete nicht darauf, dass er mich dazu aufforderte, sondern setzte mich auf den Stuhl, auf der anderen Seite des Schreibtisches. Mein Arzt nahm die Füße vom Tisch, stellte die Tasse weg und sah mich mit sorgenvoller Miene an.
»Was ist los?«, fragte er dann nur.
»Nichts«, sagte ich und versuchte ein unbekümmertes Gesicht zu machen. »Ich wollte nur noch einmal vorbeikommen.«
Falsche Wortwahl. Die Sorgenfalten beim Doc wurden tiefer.
»Noch einmal vorbeikommen?«, wiederholte er misstrauisch. »Bevor...«
War ich so leicht zu durchschauen?
»Bevor ich in Urlaub fahre«, entgegnete ich.
»Urlaub?«
Wie gesagt, wir kannten uns lange, waren ungefähr im gleichen Alter und ich hatte ihm, zusätzlich zu meinen Krankheiten, oft mein Herz ausgeschüttet. Er war mein Arzt und Psychiater in einem. Oder sogar ein Freund.
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