Wolfgang Nairz
„ES WIRD SCHON GUT GEHEN“
BERGE UND ANDERE ABENTEUER MEINES LEBENS
Wolfgang Nairz im Gespräch mit Horst Christoph
„WER HÖHER STEIGT, WIRD WEITER SEHEN“
(Reinhard Karl)
Rundherum ist es still. Nicht nur still, sondern auch vollkommen windstill , obwohl wir mit circa 40 Stundenkilometern übers Karwendel gefahren sind und jetzt über Innsbruck dahingleiten. 360 Grad ist der Rundblick, unheimlich der Blick in die Tiefe. Kurz vor Sonnenaufgang bin ich mit dem Heißluftballon in Seefeld gestartet. Schnell hat der Ballon an Höhe gewonnen, die Grate und Gipfel wurden kleiner, die Sicht umso größer. Hinter dem Brandjoch und der Frau Hitt sind wir ins Inntal hinausgefahren, nur getrieben vom Wind. Man spürt aber keinen Fahrwind, wir ziehen gleich schnell dahin wie der Wind.
Die Sonne ist inzwischen aufgegangen. Grausilbern glänzen im Norden die Karwendelketten, silbergrün blitzt der Inn herauf, der sich vom Oberinntal kommend friedlich durch Innsbruck schlängelt und allmählich im Unterinntal entschwindet. Weit fliegt der Blick zu den Bergen hinunter: Bernina, die Ötztaler Alpen mit der Wildspitze, die Stubaier und Kalkkögel, das Wipptal, das zum Brenner führt, Tuxer und Zillertaler Alpen – bis zum Glockner und Großvenediger reicht der Blick, und im Süden grüßen die Dolomiten. Nichts kann die Schönheit dieses Panoramas stören.
So weit sieht man natürlich nicht, wenn man hoch über den Dächern von Innsbruck zu Fuß unterwegs ist: am Innsbrucker Klettersteig zum Beispiel – einer meiner Lieblingswege dort oben –, der vom Hafelekar über die Gipfel und Grate der Nordkette bis zum Frau-Hitt-Sattel führt. Leitern und Seile erleichtern die Auf- und Abstiege, immer wieder balanciert man über die Grate. Der Klettersteig spielt mit den Reizen der ihn begleitenden Kulisse: im Norden die Einsamkeit des Karwendels, zu Füßen die Stadt Innsbruck, und der Blick nach Süden ist zwar nicht so unendlich wie aus dem Ballon, aber doch großartig. Und vor allem spürt man hier heroben die Gewalten der Natur, der Wind fährt durch die Haare, man hört die Dohlen pfeifen, die einen während des ganzen Tages begleiten, und sein Glück muss man sich erst erarbeiten. Ich liebe es, Innsbruck aus der Vogelperspektive zu erleben. Fast jedes Jahr bin ich einmal dort oben unterwegs und dabei werden Erinnerungen an die Sonnwendfeuer meiner Jugend wach.
Ein Logenplatz am Himmel: Weit reicht der Blick aus dem Heißluftballon hinunter auf Innsbruck, das Inntal und das Karwendelgebirge.
Eine Seilschaft fürs Leben: Edith und Wolfgang Nairz
Lama Anagarika Govinda, der große, aus Deutschland stammende buddhistische Gelehrte, reiste jahrelang durch Tibet, und seine Reisen führten ihn auch zum heiligen Berg Kailash. Govinda sprach einen Gedanken aus, der auch mich mein Leben lang begleitete: „Um die Größe eines Berges wahrnehmen zu können, müssen wir Distanz von ihm halten; um seine Form in uns aufzunehmen, müssen wir ihn umwandeln; um seine Stimmungen zu erleben, müssen wir ihn zu allen Tages- und Jahreszeiten beobachten: bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, zur Mittagszeit und in der Stille der Nacht, an trüben Regentagen und unter blauem Himmel, im Winterschnee und Gewittersturm …“
Ich habe mir „meine“ Berge von allen Seiten angesehen, habe sie vielfach umrundet, sie bei Sonne, Sturm und Regen erlebt, ich habe diese Berge lieben gelernt und sie manchmal auch verflucht, sei es rund um meine Heimatstadt Innsbruck oder im fernen Himalaya: Ich habe sie mit Freunden lachend bestiegen und bin manchmal sehr traurig heimgekehrt, aber immer wieder bin ich dorthin zurückgekehrt, wo ich mich wohlgefühlt habe: in eine großartige Landschaft mit großartigen Menschen, in ein Paradies, in dem ich auch manchmal die Hölle erlebt habe; die schönen Erinnerungen aber überwiegen bei weitem.
Viele meiner Träume sind in Erfüllung gegangen, einige warten noch – aber solange man Träume hat, kann das Leben nicht langweilig werden. Viele dieser Träume konnte ich mir nur erfüllen, weil ich in meiner Frau Etti eine liebe- und verständnisvolle Partnerin habe, die es mir vielfach ermöglicht hat, nicht nur gemeinsame Träume zu leben, sondern auch eigene, manchmal sehr egoistische Ziele zu verwirklichen.
Ich darf vielen Menschen danken, die mich als Weggefährten begleitet haben und zu guten Freunden wurden. Danken auch allen, die geholfen haben, dass dieses Buch zustande kam: Anette Köhler und Horst Christoph, der mit viel Geduld meine Antworten hinnahm, und allen Freunden, die wertvolle und interessante Beiträge verfassten. Ich freue mich, dass ich dieses Buch nun, zu meinem siebzigsten Geburtstag, in meinen Händen halten kann.
Stolz bin ich nur darauf, dass wir alle, die wir gemeinsam in den heimatlichen und in den Weltbergen unterwegs waren, wie Reinhold Messner gesagt hat, immer in Frieden nach Hause gekommen sind. Ich danke Euch dafür!
Innsbruck im Sommer 2014 |
Wolfgang Nairz |
KAPITEL 1: Kindheit und Jugend in der Bergsteigerstadt Innsbruck
Mit Hermann Buhl am Wohnzimmertisch
„Das Klettern ist für mich immer mehr Lebenszweck geworden“
Kletterheimat Kalkkögel: „Es hat so schön geplumpst“
Die frühen Tourenbücher
Die Innsbrucker Bergsteigerszene der wilden Siebziger mit Wolfi Nairz, dem Unbekümmerten, von OSWALD OELZ
KAPITEL 2: Auf dem Weg zu den Bergen der Welt
Dunkelheit, Kälte und Lawinen am Lyskamm
„Im Straßengraben schlafen wir, dann rennen wir zum Einstieg“
Bara Sahib Wolfi, von REINHOLD MESSNER
„Ein Hund namens Karl Maria“
KAPITEL 3: Neue Maßstäbe für die Achttausender
Manaslu 1972: Der „Berg der Seele“ als Ort der Prüfung
„Den Angehörigen gegenüberstehen“
Cho-Oyu-Südwand 1982: Der Kampf ums Überleben
„Der Begriff der Seilschaft fürs Leben hat für mich schon eine Berechtigung“
Durch Zufall rechtzeitig am Ort: Bergungsaktion Ama Dablam 1979
„Auf eine Expedition würde ich nie ohne Arzt gehen“
Wolfi, der Dhaulagiri und die blauen Bomber, von RUDOLF ALEXANDER MAYR
KAPITEL 4: 1978: Die ersten Österreicher am Everest
„Und dann fielen wir uns um den Hals“
Atemlos am Everest – Der spektakulärste Gipfelsieg der Geschichte, von HORST CHRISTOPH
Franz Oppurg, der Zweifler, der als erster Mensch allein am Gipfel des Mount Everest stand, von RUDOLF ALEXANDER MAYR
Von der Schreibmaschine zum Satellitentelefon: Expeditionskommunikation im Wandel, von ROBERT SCHAUER
KAPITEL 5: Briefe vom Everest: „Ich wünschte Dich in meinem Schlafsack“
Ein Expeditionstagebuch der anderen Art
Brief von Herbert Kuntscher an Wolfgang Nairz ins Everest Basecamp
KAPITEL 6: Vom Drachenfliegen in den Stubaiern zum Ballonfahren in der Mongolei
Dem Himmel entgegen
„Ballonfahrer sind alle ein bisschen Verrückte“
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