Ich befürchtete immer drakonische Strafen meiner Eltern. Dabei waren sie nie streng gewesen. Aber dieses Gefasel ( Du sollst ein guter anständiger Junge werden ) hatte sich in meinem Kopf festgesetzt. So blieb ich brav, anständig und unglücklich.
Der altbekannte Weg Richtung Stadt flog an mir vorbei. Entlang des vermüllten Feldwegs donnerten Gedanken meines vergangenen Lebens wild hin und her und ließen mich die Fahrt vergessen. Ich dachte an meine Kindheit, Jugend und die Zeit danach.
Alles begann doch so wunderbar. Wie konnte sich alles dermaßen geändert haben? Warum bestimmte das Schicksal über Wege, Planungen und Ereignisse? Der Hilferuf der Schwachen war stets nur ein Flüstern. Ein leiser Hauch, der das Mitleid derer hervorrief, die stark und vor allen Dingen gesund waren. Natürlich ist jeder seines Glückes Schmied, aber nur, solange das Feuer in der Esse brennt. Wenn die Glut nur noch ein Häufchen Asche war, war es das mit dem Glück.
Was für ein blöder Spruch, dachte ich und fuhr schnurstracks über eine rote Ampel. Ein silberner Toyota kam mit quietschenden Reifen kurz vor meinem geklauten E-Bike zum Stehen.
»Haben Sie noch alle Latten am Zaun?« Ein kräftiger Mann mit buntem T-Shirt und Bermuda-Jeans fiel förmlich aus der Tür und brüllte mir die Worte mit hochrotem Kopf entgegen.
»Sorry, nicht gesehen,« stammelte ich und versuchte mich vom Schreck zu erholen.
»Nicht gesehen, dass die Ampel rot ist?«, fragte der Mann und schoss direkt hinterher: »Sie können froh sein, dass ich noch rechtzeitig bremsen konnte.«
Wäre auch nicht schlimm gewesen, hätte ich beinahe gesagt, schluckte die Bemerkung allerdings herunter. »Alles gut. Tut mir leid. Das haben Sie ganz toll gemacht,« sagte ich und überschüttete den Kerl, der mir gerade das Leben gerettet hatte, mit einer gehörigen Portion Zynismus.
»Wollen Sie mich etwa verarschen?« Der Mann kam näher. Er war mindestens einen Kopf größer als ich, hatte eine Glatze und wirkte, trotz des bekloppten bunten Hemdes, recht durchtrainiert. Dass sich hinter seinem Wagen eine Schlange bildete und die ersten Ungeduldigen hupten und weiterfahren wollten, schien ihn nicht wirklich zu stören.
Ich weiß nicht was mich geritten hatte, doch mit einem Mal wurde ich ungewohnt selbstsicher. Mit dem Gefühl, dass mir eigentlich alles völlig egal sein konnte, antwortete ich ihm: »Und jetzt? Wollen Sie mir eine reinhauen?«
»Was? Hör mal, du wabbeliger Fettsack. Ich habe es eilig. Normal hau ich dich so um, dass es für dich kein Morgen mehr gibt.«
Welch eine Ironie. Ich lächelte und die Glatze wurde langsam unsicher.
»Sag mal, bist du besoffen?«
Ich antwortete ihm nicht, lächelte nur und fuhr weiter. Möglich, dass er heute noch da steht. Es war doch alles so belanglos. Was sollte schon passieren?
In der Nachbetrachtung wäre ich bei meinem Glück, an jedem anderen Tag wahrscheinlich im Krankenhaus gelandet. Querschnittsgelähmt, unfähig mich umzubringen. Der Worst Case. Das wäre typisch gewesen. Herrgott, es gab wirklich Leute, denen es noch dreckiger ging. Wahrscheinlich aber waren diese Leute nicht so depressiv. Wie sonst hätte man mit so einem Schicksalsschlag umgehen können? Und da waren sie wieder, die Starken und die Schwachen. Leider gehörte ich zur letzteren Kategorie.
Die Sonne brannte vom Himmel. Ein Vormittag im Mai glich inzwischen einem Vormittag im Hochsommer. Nicht einmal eine Kappe hatte ich eingepackt. Meine dichte schwarze Haarpracht, die mir sonst immer ziemlich auf den Wecker ging, weil sie so schlecht zu bändigen war, rettete mich davor, dass ich mir den Schädel verbrannte.
Eigentlich wäre dies ein perfekter Tag gewesen, um einen Ausflug zu starten, ließ man die Umstände außer Acht. Sonne, ein leichter Wind, Wiesen, Felder, kleine Wäldchen, alles was mir in den letzten Jahren verborgen geblieben war, lachte mich nun an. Vielleicht aber lachte mich die Natur auch nur aus. Haha, guck dir mal den Dicken auf dem Fahrrad an . Meine leicht halluzinierenden Gedanken führten dazu, dass ich glaubte, in einiger Entfernung Bäume zu sehen, die ihre Krone zusammenschoben und über mich redeten. Ich musste diesen Verfolgungswahn loswerden, dieses Gefühl ständig beobachtet zu werden. Immer die Ahnung zu haben, dass irgendjemand, der mich sah, lästerte, sich hinter meinem Rücken gnadenlos schlecht über mich ausließ. Aber es war so oder so zu spät. Mir konnte jegliches Lästern, jede Beobachtung meiner Person vollkommen gleichgültig sein, denn schließlich würde ich nicht mehr lange auf dieser kaputten Welt verweilen.
Ich fuhr, wie ich annahm, Richtung Nordosten, Richtung Ostsee. Mein Ziel: Je weiter ich in diese Richtung fahre, umso günstiger würde das Zugticket werden. Mein Handy, der moderne Kompass, beließ ich in der Hosentasche.
Inzwischen kannte ich die umliegenden Feldwege nicht mehr. Plötzlich lief mir ein Mann in grüner Latzhose schreiend entgegen. »Die Kuh, verdammt! Ich brauche Ihr Rad.«
»Die Kuh?«, wiederholte ich verdutzt.
»Meine Kuh, die gerade an Ihnen vorbeigerannt ist.«
Nachdenklich sah ich mich um und sah in einiger Entfernung eine Kuh, die sich in gemäßigtem Trab immer weiter von uns entfernte. »Oh«, fiel mir als einzig Sinnvolles ein.
»Kann ich Ihr Fahrrad haben?«
»Ähh, klar«, antwortete ich, mit der Situation immer noch überfordert. Ich stieg ab und drückte der Latzhose das E-Bike in die Hand.
Ohne ein weiteres Wort packte der Mann das Rad und nahm die Verfolgung auf. Kurz blickte ich ihm hinterher und hoffte, dass er die Kuh irgendwie zum Stillstand bekommen würde.
Dann tippte mich jemand an. Ich drehte mich um und blickte in glückliche, dankbare Augen.
»Lieb von Ihnen, dass Sie meinem Mann ihr Fahrrad geliehen haben.« Eine kleine rundliche Frau mit einer hellblauen Schürze stand vor mir.
»Kein Problem, das ist doch selbstverständlich«, meinte ich ehrlich.
»Das glaube ich Ihnen. Sie haben treue Augen.«
Treue Augen? Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Ich glaubte ihr trotzdem, mir jedoch weniger. Treue? Ich bin nie in die Verlegenheit gekommen untreu zu werden. Vielleicht meinem Arbeitgeber, weil ich ihn durch meine Krankheit im Stich gelassen hatte, aber war das Untreue? Ich fühlte mich dadurch schlecht, das stimmte. Schließlich und insoweit konnte ich die Aussage der Frau bestätigen, besaß ich ein wenig Anstand. Aber wirklich treu?
»Wollen Sie auf ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee reinkommen?«
Überrascht sah ich mich um, was sie sofort bemerkte. »Wir haben einen Bauernhof, direkt hier am Feld.«
Sie zeigte zur Seite, drehte sich um und ging los. »Kommen Sie!«, sagte sie lachend. Diese Frau hatte die Lebensfreude, die mir abhandengekommen war. Sie schien nicht viel auf Äußerlichkeiten zu geben. War mit dem zufrieden, was sie hatte, wahrscheinlich frei von jeglichem medialen Einfluss und sämtlichen Süchten und Beeinflussungen, die damit einhergingen. Zumindest war dies mein Eindruck.
Ich folgte ihr.
Nach etwa hundert Metern standen wir mitten in einem wunderschönen Gutshof. Kühe muhten aus einem Stall in der Nähe und ein paar Hühner liefen frei umher und pickten auf dem Boden herum.
»Urig«, befand ich.
»Schöner ist es nirgendwo.«
Mein Eindruck schien sich zu bestätigen. Die Bäuerin war das Paradebeispiel eines zufriedenen Menschen und ein Leuchtturm mitten in rauer See, auf der sich Leute wie ich befanden, die ziellos auf ihrem alten Kahn dem Untergang geweiht waren. Leider, und so viel stand fest, würde ihr Licht mich nicht davon abhalten an den Klippen zu zerschellen.
»Das glaube ich Ihnen.«
Sie ging voran. Ich folgte ihr, durch eine offenstehende Holztür, in ein rot verklinkertes Haus, an dessen Fensterbänken herrlich bunte Blumen in grünen Kästen ausufernd nach unten rankten.
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