»Für Sie bin ich immer noch Herr Kriminalkommissar Tenes und möchte mit Sie angesprochen werden«, stellte Erik die Verhältnisse unmissverständlich klar.
Annette verzog enttäuscht ihr Gesicht.
Erik setzte sich auf seinen Stuhl und schaute Rita dabei an, während er sprach: »Wir müssen ausschließen können, dass Sybille Lohmann durch einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht gestorben ist, bevor wir diesen Fall als Tötungsdelikt behandeln.«
»Tötungsdelikt?«, staunte Rita. Ihr Gesicht wurde kalkweiß. »Sie reden von Mord?!«
»Genau das! Wenn Susi versehentlich ein Fahrzeug von der Straße abgedrängt hat, ohne sich dessen bewusst zu sein, kann Ihnen nichts passieren, wenn Sie es jetzt zugeben. Deshalb bitte ich Sie, sich zu erinnern, was auf dem Nachhauseweg passiert ist!«
Annette setzte sich neben ihre Freundin.
»Es fällt mir schon schwer genug, mir vorzustellen, dass Sybille wirklich tot ist«, meinte sie mit betroffener Miene. »Wir haben uns immer gut verstanden. Rita hatte Sybille sogar die Arbeit auf dem Gesundheitsamt besorgt, wo sie aber leider nicht lange geblieben ist.«
»Das beantwortet unsere Frage nicht.« Anke ließ sich nicht ablenken.
Vielsagend schauten die beiden sich an, bis Rita murrte: »Wir sind uns keiner Schuld bewusst. Ein Fahrzeug von der Straße abzudrängen wäre doch mit quietschenden Reifen, Klirren und Krachen verbunden. Aber da war absolut nichts.«
»Und die angebliche Sternschnuppe?«, hakte Anke nach.
»Das war so ein Idiot auf der Gegenfahrbahn, der das Fernlicht nicht ausgeschaltet hatte.«
Erik und Anke bedankten sich und traten hinaus in das unfreundliche Herbstwetter. Schnell stiegen sie ins Auto ein.
»Was hältst du davon?«, fragte Anke, kaum dass sie die Autotür zugeschlagen hatte.
»Ich bekomme das Gefühl nicht los, dass diese unbeschwerten Damen uns zum Narren halten. So viel Fröhlichkeit bringt doch den einfältigsten Trottel zum Zweifeln.«
»An wen denkst du da speziell?«, hakte Anke nach.
»An Emil.«
»Also, worauf warten wir noch? Fahren wir zu Emil und hören uns seine Version der Geschichte an.«
*
Es war ein flaches, altes Haus dicht an der Hauptstraße. Links von einer Scheune und recht von einem größeren, gepflegten Gebäude flankiert. Die Fassade wirkte vernachlässigt. Der Putz bröckelte an vielen Stellen ab. Die Haustür war klein und baufällig. Über der Tür befanden sich im Steinrahmen unverständliche Schriftzeichen, die aussahen, als wollte der Bewohner des Hauses böse Geister fernhalten. Als Erik klingelte, hörten sie fast gleichzeitig ein lautes Krachen aus dem Hausinneren. Schnell eilte Erik an die Scheune und versuchte, durch das Holztor einen Blick hineinwerfen zu können.
»Das ist keine Scheune mehr, wie es aussieht. Darin steht nämlich ein Auto », rief er Anke zu. »Ich gehe um die Scheune herum zur Rückseite des Hauses, um nachzusehen, ob es noch einen anderen Eingang gibt.«
Sofort rannte Erik los. Anke blieb allein vor der Haustür stehen. Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass sich etwas Schlimmes darin abspielen könnte. Zum Glück dauerte es nicht lang, da öffnete Erik die Haustür.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie ganz überrascht.
»Komm herein und sieht es dir an.«
Anke betrat einen dunklen Flur. Die Luft roch abgestanden und muffig, wie sie es aus Häusern kannte, in denen schon seit langer Zeit nur alte Menschen gelebt hatten. Die Tapete an den Wänden war dunkel und vergilbt, die Farben nicht mehr erkennbar. Der Boden knarrte unter ihren Füßen. Die Fenster zur Straßenseite waren alle mit alten Holzläden verschlossen. Am Ende des Flurs gab es etwas Licht. Darauf ging Anke zu und fand sich sogleich in einem hellen Zimmer, an dessen Rückseite mehrere kleine Fenster waren, die Tageslicht hereinließen. Abgenutzte Sessel und Sofas standen dort, ein kleiner Tisch und eine kleine Kommode, auf der altes Porzellan stand. Der Teppichboden war ausgetreten, das Tapetenmuster schon lange aus der Mode. Von der Decke hing eine schäbige, kleine Lampe herunter, die nicht den Eindruck hinterließ, dass sie genügend Licht spenden konnte. Es roch nach altem Schweiß und anderen Körperausdünstungen. Anke musste sich beinahe übergeben. Emil saß auf dem alten Sofa mit rot verquollenem Gesicht. Seine Brille lag neben ihm und war stark verbogen. Mit einem feuchten Tuch kühlte er die vielen Blutergüsse und Platzwunden in seinem Gesicht.
»Meine Güte, was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte Anke.
»Ich bin die Treppe heruntergefallen«, log Emil.
»Das muss aber eine komische Treppe gewesen sein«, stellte Erik fest, worauf Emil heftig protestierte: »Was geht euch das alles an. Wie kommt ihr überhaupt hier herein. Ich habe euch nicht hergebeten. Jetzt verschwindet und lasst mich in Ruhe!«
»Wenn Sie uns sagen, wer Sie so zugerichtet hat und warum, können wir vielleicht verhindern, dass er zurückkommt«, schlug Erik vor.
»Ich will eure Hilfe nicht, also verschwindet.«
So leicht ließ Erik sich nicht abwimmeln. Er ging von Zimmer zu Zimmer, schaltete überall das Licht ein, um etwas erkennen zu können und sah sich in aller Ruhe um. Emil beobachtete ihn ganz erstaunt, hinderte Erik aber nicht an seinem Tun.
»Ist das hier das Haus Ihrer Eltern?«, fragte Anke und ließ ihren Blick durch das ungepflegte Ambiente wandern.
»Das Haus meines Vaters. Meine Mutter hat uns sitzen lassen, da war ich noch ganz klein. Mein Vater kam nie darüber hinweg. Hat sich tot gesoffen.«
Eine Weile herrschte Stille, bis Anke endlich das fragte, was sie wirklich beschäftigte: »Kannten Sie Sybille Lohmann?«
»Ja! Hier im Dorf kennt jeder jeden.«
»Mochten Sie sie gern?«
»Sybille machte mit jedem Mann rum, nur mit mir nicht. Deshalb weiß ich nicht, ob ich sie mochte«, antwortete er nach einigem Zögern.
»Saßen Sie zusammen mit Sybille Lohmann im Unfallwagen?«
»Nein«, brauste Emil plötzlich auf. »Wie kommen Sie darauf? Ich saß in meinem eigenen Auto.«
»Sie haben den Unfall erst von zu Hause aus gemeldet«, stellte Anke klar. »Wer sagt uns, dass Sie wirklich mit Ihrem eigenen Wagen unterwegs waren?«
Emil schnaufte.
»Wissen Sie jetzt, warum wir hier sind?«
»Nein! Ich habe nichts getan.« Er blieb stur.
»Wir sind hier, weil wir die ganze Wahrheit wissen wollen. Außer uns scheint es ja noch jemanden zu geben, der das wissen will. Und dieser Jemand geht dabei nicht so nett mit Ihnen um.«
»Warum sollte ich mit Sybille Lohmann in einem Auto fahren?«, fragte er immer noch schmollend. »Sie wollte von mir nichts wissen.«
»Sybille Lohmann war schon lang alleinstehend. Wer weiß, vielleicht - suchte sie einfach einen Menschen, den sie in ihrer Nähe haben wollte«, spekulierte Anke blind darauf los.
»Sybille war nie allein. Sie hatte immer einen Mann.«
»Wer war der Glückliche?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sybille Lohmann ist auf keinen Fall allein im Auto gesessen, als der Unfall passierte«, erklärte Anke. »Kann es also sein, dass sie mit einem neuen Mann unterwegs war?«
»Ganz sicher! Allein hat Sybille nie etwas gemacht.«
»War dieser Mann hier bei Ihnen?«
Emil verschränkte seine Arme vor seiner Brust, womit er demonstrierte, dass er nicht antworten wollte. Das gab Anke zu denken.
»Gibt er Ihnen die Schuld an Sybilles Unfall?«
Emil änderte seine Haltung nicht mehr.
Erik hatte alles aus sicherer Entfernung beobachtet. Als er bemerkte, dass Anke mit ihren Fragen in einer Sackgasse gelandet war, mischte er sich ein: »Wenn Sie es sich doch anders überlegen sollten, dann rufen Sie uns an.«
Er legte Emil eine Karte mit seiner Dienstnummer auf den Tisch. Emil wischte die Karte von dem Tisch, als handelte es sich um ein ekelhaftes Insekt.
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