»Nun gut, dann sollten wir uns auf den Weg machen, bevor der Chef zurückkommt«, schlug Erik vor.
*
Die Neuhauser Straße war wieder frei, die Arbeit der Spurensicherung beendet. Als sie die Unfallstelle erreichten, hielten sie an. Sie stiegen aus, überquerten die Straße und betrachteten sich den schmalen abschüssigen Streifen zwischen Bäumen und Sträuchern, den Abgrund, den das Auto hinuntergestürzt war. Es war schon erstaunlich, dass der Wagen genau an dieser Stelle von der Straße abgekommen war, weil es nur an dieser Stelle möglich war, bis ganz hinunter zu fallen. Heute erinnerte nur noch ein dunkler Rußfleck auf der Erde daran, dass dort ein schweres Unglück geschehen ist.
»Welche Rolle spielt Emil Tauber in dieser Sache?«, fragte Erik.
»Das ist eine gute Frage. Rita, Annette und Susi waren über seinen Besuch nicht gerade erfreut – um nicht zu sagen erschrocken.«
»Erschrocken?«
»Ja, das ist das Erstaunliche. Das könnte doch bedeuten, dass Emil etwas gesehen hat und die drei damit unter Druck setzt«, spekulierte Anke.
»Du hältst es also für möglich, dass Emil Rita, Susi und Annette erpresst?« Erik klang skeptisch.
Anke zögerte, bevor sie die Schultern zuckte: »Ich glaube, ich habe mich wirklich in etwas verrannt.«
»Das werden wir noch feststellen. Zunächst einmal möchte ich die Frauen kennen lernen.«
Sie stiegen ins Auto.
»Es gibt in Saarbrücken und Umgebung mehr Natur, als ich vermutet habe. Ich dachte immer, hier sei die Hochburg an Stahlwerken und Hochöfen«, dachte Erik laut, während er in ruhigem Tempo durch die kurvenreiche Straße weiter fuhr.
»Das war einmal. Im Saarland gab es früher noch mehr Stahlindustrie. Viele Stahlwerke mussten schließen, weil die Produktion nach der Stahlkrise stagnierte. In Saarbrücken gibt es noch die Halberger Hütte. In Völklingen gab es die Röchling-Hütte. Sie bestand aus einem Hochofen, einer Gebläsehalle und einem Pumpenhaus, wurde 1980 stillgelegt und zu einem Museum umfunktioniert – das Weltkulturerbe. Die Hütte in Neunkirchen ist auch nur noch teilweise in Betrieb, der andere Teil wurde ebenfalls zu einem Museum umfunktioniert.«
»Mir gefällt in dieser Stadt die Gegensätzlichkeit von dörflichem Charakter in beschaulicher Idylle und Großstadthektik. So abwechslungsreich ist es nicht in Köln. Dort herrscht überwiegend Großstadthektik. Wenn man Natur sehen will, muss man hinausfahren zum Grünen Ring, der die gesamte Stadt einrahmt, oder zu den Parkanlagen. Aber die sind nicht natürlich entstanden, sondern angelegt worden.«
In Walpershofen angekommen, passierten sie die ersten Häuser, fuhren unter der Bahnunterführung durch und bogen in die Herchenbacher Straße ein. Sie trafen Rita und Annette gemeinsam bei Annette zu Hause an. Die Wohnung lag in einem großen schmucklosen Doppelhaus in der ersten Etage mit Balkon auf der Rückseite, der eine Aussicht über den Ort Riegelsberg bot. Große Fenster ließen viel Licht herein, helle Möbel und viele Spiegel ließen die Lichtflut noch deutlicher zur Geltung kommen. Die ganze Einrichtung war modern. Am Eingang befand sich eine Garderobe, die aus einem kunstvoll geformten Chromgestell bestand. Die Möbel wiesen ungewöhnliche Formen auf. Kein Stück glich dem anderen. Dekorative Accessoires wie kleine Vitrinen, Glastische und Halogenlampen setzten besondere Akzente in diesem raffiniert ausgestatteten Ambiente. Die Küche war groß und an einer langen Seite komplett mit hellgrauen Schränken ausgestattet. In der Mitte stand ein ovaler, schwarzer Tisch eingerahmt von verchromten Stühlen, die zwar passend aber ungemütlich aussahen. Dort bat Annette ihre Besucher, Platz zu nehmen. Als Anke sich in einem der Stühle niederließ, spürte sie, wie er nach hinten wippte. Sie erschrak und wollte aufspringen, doch Annette meinte ganz gelassen: »Keine Sorge, da passiert nichts. Darüber ist schon manch einer erschrocken.«
Anke beschloss, diese Unterhaltung ihrem Kollegen zu überlassen, während sie sich umsah.
»Wir müssen uns noch einmal über Samstagnacht unterhalten«, erklärte Erik den Grund ihres Besuches.
Rita begann zu lachen, was Erik und Anke staunen ließ. Darauf meinte sie: »Sie reden von Samstagnacht, als sei es die Apokalypse gewesen. Dabei waren wir auf einer Party, wo es total lustig zuging.«
Annette sprang auf, eilte zu einer Schublade der Küchenzeile und nahm einige Fotos heraus. Sie zeigte sie Erik, ohne Anke zu beachten und fügte an: »Schauen Sie sich die Fotos an. Wie Sie sehen, war es eine echte Superparty. Schade, dass Sie nicht dabei waren. Ein Mann wie Sie hätte dort gerade noch gefehlt.«
Erik schaute sich die Fotos genau an und versuchte, Emil Taubers Gesicht darauf zu erkennen. Ohne Erfolg.
»War Emil Tauber nicht auf der Party?«
»Nein! Den lädt keiner ein, weil ihn keiner leiden kann«, winkte Annette ab.
»Warum?«
»Er ist lästig. Mögen Sie es, wenn ständig jemand in Ihrer Nähe steht, immer nur zuhört, als wollte er kein Wort verpassen, aber nicht ein einziges Mal den Mund aufmacht?«, fragte Annette zurück.
»Nein«, gab Erik zu. »Warum verhält er sich so?«
»Das wissen wir nicht«, wandte nun Rita ein. »Wir wissen nur, dass Emil sich schon immer so verhalten hat. Er ist genauso alt wie wir, mit uns schon in den Kindergarten und später in die Grundschule gegangen. Danach haben sich unsere Wege getrennt. Allerdings taucht er immer da auf, wo wir sind. Deshalb wundert es uns nicht, dass er Samstagnacht hinter uns hergefahren ist.«
»Sie wollen damit sagen, dass Emil vor dem Haus, in dem die Party stattfand, auf Sie gewartet hat und Ihnen gefolgt ist ohne mit Ihnen zu sprechen?« Erik staunte.
»Genau das«, stimmten Annette und Rita gleichzeitig zu, was erneut einen Lachanfall auslöste.
Erik amüsierte sich über das Verhalten der jungen Damen, die den Eindruck machten, als seien sie durch nichts zu erschüttern.
»Das würde bedeuten, dass Emil bestens Bescheid darüber wusste, dass Sie zu dritt in dem Auto saßen«, überlegte er weiter.
Fragend schauten ihn Annette, Rita und Anke an.
Erik erhob sich von seinem Stuhl und ging in der großen Küche langsam auf und ab. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass es wieder begonnen hatte zu regnen. Er drehte sich um und sah, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Sie warteten darauf, dass er endlich seinen Gedankengang erklärte.
»Ist außer Susi Holzer noch jemand von Ihnen mit Drohanrufen belästigt worden?«
Annette und Rita schüttelten die Köpfe.
»Also kann Emil nicht der Anrufer gewesen sein.«
Rita lachte laut los: »Emil doch nicht. Niemals! Den hätte Susi sofort an seiner Stimme erkannt.«
»Und warum kam Emil Sie gestern bei Susi zu Hause besuchen?«
»Das wissen wir nicht.«
»Natürlich nicht, Sie haben ihm ja gar keine Gelegenheit gegeben, den Anlass seines Besuches zu erklären«, schaltete sich Anke ein.
»Warum sollten wir. Wie schon gesagt: er ist lästig. Wir wollen ihn nicht in unserer Nähe haben«, wehrte sich Annette.
»So lästig, dass Sie fluchtartig davonrennen?« Anke zweifelte.
Rita und Annette schwiegen.
Eine Weile war es so still, dass deutlich der heftige Wind und der prasselnde Regen zu hören waren. Als Anke zum Fenster schaute, sah sie in der anbrechenden Dunkelheit, wie einige Bäume sich bogen. Es tobte ein heftiger Sturm.
»Als Emil in Susis Haus eintraf, hatte ich nicht den Eindruck, dass er unbeliebt ist«, sprach Anke in die Stille.
»Sondern?«
»Es sah so aus, als hätten Sie Angst vor ihm.«
Wieder lachten die beiden Frauen. Erik, der immer noch in einiger Entfernung stand, räusperte sich und murrte: »Es ist nicht alles lustig, was hier gesprochen wird.«
Sofort verstummten Rita und Annette. Annette stand auf, stellte sich dicht neben Erik. Sie taxierte ihn und fragte: »Warum bist du wirklich hier?«
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