„Fantastisch“, sagte Jan anerkennend, dann schwiegen die vier Menschen, die über den Austausch ihrer Gedanken und eine innere Erregtheit im Laufe des Gesprächs fast schon miteinander eins geworden waren, schwiegen erschöpft, aber glücklich wie nach einem ausgeprägten Liebesspiel.
Alexander goss sich selbst von dem Ginger Ale nach und genoss den Moment, da sich seine trockene Kehle mit dem köstlichen Nass benetzte. Endlich traute er sich auch, nach einer Mandarine zu greifen und sie in Ermangelung eines Obstmessers einfach mit der Hand zu schälen.
Er fühlte sich, als wäre er nach langer Zeit in das Haus eines sehnsüchtig vermissten Freundes zurückgekehrt. Dabei saß er völlig fremden Menschen gegenüber, denen er normalerweise keinen Zentimeter über den Weg trauen würde, seit er wusste, wozu Menschen fähig sind. Fremde Menschen genauso wie Nachbarn, Bekannte, Freunde oder zufällige Sitznachbarn in der Straßenbahn.
Er nahm seine Brille ab, die er tatsächlich nicht aus modischen Gründen trug, sondern weil das dünne Fensterglas wie ein Schutzschild wirkte und seinen Blick davon abhielt, Kontakt mit etwas oder jemandem aufnehmen zu müssen. Die Präsidentin, die damit beschäftigt gewesen war, etwas in ihr Tablet zu notieren, sah ihn in genau diesem Moment an.
„Vielen Dank für diese spannenden und lehrreichen Ausführungen, Alexander“, sagte sie. „Eine Frage hätte ich allerdings noch, nein, eigentlich sind es zwei. Zunächst frage ich mich, was Ihr persönliches Motiv ist, an einer solchen Digitalisierung des Blickes, wie Sie es nennen, arbeiten zu wollen. Die zweite Frage geht auch in eure Richtung“, sagte sie zu Jan und Marvin.
„Was ist die Geschäftsidee dahinter? Was bringt es NEOWORLDS an einer solchen Entwicklung zu arbeiten? Also außer einem Imagegewinn?“
Alexander spürte die warme Hand seines Großvaters auf seiner Schulter ruhen. Er kannte ihn nur von Fotografien, von jenen drei Bildern, die Großmutter in einem alten Koffer hatte mitnehmen können, als sie sie schwanger ins Ausland gebracht hatten.
Auf den Bildern sah man die Ähnlichkeit und er hatte sich oft gewünscht, er hätte mit ihm persönlich auch nur eine Stunde sprechen können. Aber er schwieg wie in seinen Träumen, war nur in seinen Gedanken spürbar anwesend.
Jan registrierte feinsinnig Alexanders Stimmungsänderung und versuchte, die Aufmerksamkeit von ihm abzulenken.
„Ich sehe da ein sehr klares Geschäftsmodell“, sagte er und wandte sich Marvin zu, „oder was meinst du?“ Marvin nickte zögerlich, aber zustimmend.
„Wir behalten die Ausrichtung aufs Entertainment natürlich ebenfalls bei“, sagte er.
„Aber ich muss Alexander recht geben. Wenn wir wirklich besser sein wollen als die anderen, müssen wir völlig neue Wege einschlagen. Ich habe zwar noch nicht ganz verstanden, wie das gehen soll. Und ich glaube, du, Alexander, bist dir selbst noch nicht ganz im Klaren darüber. Aber die Grundpfeiler sind klar, oder? Ich habe jedenfalls Folgendes notiert:
1. Die Energieerzeugung geht vom Betrachter selbst aus.
2. Der Proband muss einen Nutzen für sich selbst darin sehen, sich therapieren zu lassen.
3. Die Technologie muss so minimalisiert und die Darstellung so optimiert werden, dass man es gar nicht bemerkt, dass es sich um eine virtuelle Realität handelt.
4. Über ein Interface behalten wir die Kontrolle über die mentale Tätigkeit des Probanden.
Wir hätten einen gewaltigen Imagegewinn, wenn wir daraus Technologien ableiten, mit denen sich unerwünschtes Verhalten korrigieren lässt – auf freiwilliger Basis natürlich. Haben wir die Akzeptanz für unsere Produkte auf diese Weise gestärkt, können wir auch im Entertainmentbereich weiter durchstarten. Wir könnten verschiedene Lösungen als Therapie für Gewalttäter und Extremisten anbieten, außerdem natürlich Lernpakete für die pädagogische Arbeit an Schulen zur Gewaltprävention.
Konkret sagen lässt sich das allerdings erst, wenn wir tatsächlich Ergebnisse haben. Aber allein das Image, das sich darauf aufbauen ließe … Also ich wäre klar für einen Versuch.“
Jan lächelte und nickte zustimmend. Er hatte befürchtet, dass Marvin, der auf neue Mitarbeiter bei NEOWORLDS zumeist reagierte, als müsste er ein Revier verteidigen, sich abfällig gegenüber Alexanders Plänen äußern würde.
Aber so war Marvin eben auch – wenn er erkannte, dass ihm jemand intellektuell überlegen war, wenn es gelang, ihn für ein Projekt zu begeistern, war er ohne Einschränkung bereit, das anzuerkennen. Und genau dafür liebte er ihn – für diese leidenschaftliche Objektivität, die sich über all seine Launen und Skepsis zu erheben wusste.
„Gut“, sagte die Präsidentin. „Dann versuchen wir es. Priorität hat ab sofort die Arbeit an der Neogaze Empathy 3000. Parallel arbeiten wir natürlich weiter an der Neogaze Gaming. Was meinen Sie, Alexander, darf ich Sie in Kürze als unseren neuen Mitarbeiter begrüßen?“
Alexander schluckte einen Mandarinenkern hinunter und musste husten. Alle lachten. Er war ihnen dankbar. Er war glücklich, Menschen gefunden zu haben, die wenigstens ansatzweise verstanden, wovon er überhaupt sprach, und die eine Idee nicht schon deshalb ablehnten, weil sie noch unfertig war.
Er würde endlich an Herausforderungen arbeiten können, die das Potenzial hatten, die Welt und die in ihr lebenden Menschen wirklich zu verändern, statt Kriegsgeräte zu perfektionieren, die das Töten und Hassen nur weiter vorantrieben.
Eine Träne wollte in die Welt, es war ihm peinlich, aber die anderen taten so, als bemerkten sie es nicht. Als er das Salz auf der Zunge schmeckte, wandelte sich seine Stimmung und er begann zu strahlen. Sein Großvater zog sich zurück, aber er wusste, er wäre stolz auf ihn gewesen. Genauso stolz wie seine Eltern es gewesen wären, hätten sie sich nicht bereits vor Jahren gemeinsam das Leben genommen.
Jessika, die eine Flasche Prosecco und Gläser hereintrug, verhinderte, dass er erneut in seine trüben Erinnerungen eintauchten konnte. Sie füllte die Gläser, stellte sie vor ihnen ab und wollte den Raum wieder verlassen, aber Margarethe York hielt sie zurück: „Bleib doch, Jessika“, sagte sie „du gehörst doch schließlich auch zum Team!“
Jessika sah auf die Uhr, sie wusste, ihre Mutter hatte um 20:00 Uhr den Yoga-Kurs, aber einen kleinen Moment konnte sie wohl noch bleiben. Marvin drückte ihr ein Glas in die Hand.
„Stößchen“, sagte er dann zu ihr und nachdem sie alle miteinander angestoßen hatten, küsste er Jan auf den Mund.
Alexander war für einen Moment verwirrt und versuchte daher, das gerade Gesehene zu ignorieren. Sie interessierten ihn als Kollegen, nicht als Freunde. Sollten sie machen, was immer sie für richtig hielten.
„Stößchen“, sagte die Präsidentin, die sich neben ihn gestellt hatte, dann noch einmal zu ihm, „und willkommen im Team, Alexander. Ich darf dich dann ab sofort duzen?“
Es fühlte sich nicht wirklich gut an. Auch nicht, dass Jessika sogleich ein Foto von ihm und der Präsidentin machte und es in die Social Media hochlud. Aber was sollte er dagegen einwenden?
Jessika hatte Alexander eigentlich zu seinem Hotel am Bahnhof bringen sollen, der aber zog es vor, zu Fuß zu gehen, denn er brauchte dringend frische Luft und ein wenig Distanz zu diesen Menschen, die nun tatsächlich in Zukunft seine neuen Kollegen sein würden. So sehr er sich darüber freute, so sehr bedrückte ihn der Gedanke, dass man sich bei NEOWORLDS als eine Art Familie verstand.
Zusammen arbeiten, diskutieren, lernen und Neues schaffen – ja, das lag ihm im Blut. Aber auf keinen Fall wollte er persönliche Beziehungen mit Kollegen eingehen und Small Talks über sein Privatleben führen.
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