Der Ausgang war verriegelt, Alexander flüchtete zum Aufzug, dessen Türen weit geöffnet waren. Im letzten Moment entdeckte er, dass der Aufzug demontiert worden war, einen Schritt weiter und er wäre in den tiefen, leeren Schacht gestürzt. Die furchteinflößende Gestalt kam näher, da vernahm er aus dem Augenwinkel eine Hand, die sich ihm entgegenstreckte.
Jessika winkte ihn zu sich und erleichtert rannte er in ihre Richtung. Jessika führte ihn durch ein geheimes Labyrinth in eine Art Bunker, in dem sie sich vor dem Monster versteckten. Die schweren Schritte eilten direkt an ihnen vorbei, er konnte den schwitzenden Hass riechen, der von seinem Verfolger ausging. Wenig später zog Jessika oder eine andere Frau, er war sich nicht sicher, ihn weiter mit sich fort.
„Komm“, flüsterte sie, „ich zeige dir, wie es wirklich ist.“ Schweigend betraten sie eine große Halle, in der tausende LED-Kerzen brannten. An den Wänden hingen Fotografien und auf einem Display lief wie in einem Abspann eine lange Liste von Namen. Er erschrak, als sein eigener Name und die seiner Vorfahren auftauchten.
Weinberg, Alexander
Ahrends, Samuel
Ahrends, Charlotte
Zuckermann, Daniel
Jedes Mal, wenn ein neuer Name auf dem Bildschirm erschien, wurde das zugehörige Bild an der Wand kurz erleuchtet. Alexander erstarrte, die junge Frau, die er anfangs für Jessika gehalten hatte, sah ihn mitleidig an, dann verwandelte sich ihr Gesicht in eine Fratze, ein höhnisches Lachen erklang und er musste entsetzt feststellen, dass sie keine Augen mehr hatte, dass sie ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte …
Der laute Ton, mit dem Feuerwehr, Krankenwagen und Polizei sich dem Hotel näherten, holten ihn aus dem Albtraum zurück. Irgendwann zwischen der Nachricht, dass die private Drohnennutzung in Zukunft starken gesetzlichen Einschränkungen unterliegen sollte, und einer Dokumentation über die neue Cyber-Armee, die Ursula von der Leyen einberufen wollte, musste er wohl doch eingenickt sein.
Die Wagen kamen in unmittelbarer Nähe des Hotels zum Stehen, die Martinshörner verstummten, drehten sich aber weiter und der blaue Schein streifte ein ums andere Mal das Fenster seines Hotelzimmers, Wagentüren schlugen und hektische Rufe drangen an sein Ohr.
Alexander stand benommen auf und zog die schwere Gardine zurück, um nachzusehen, was draußen geschah. Seine Augen brauchten ein wenig Zeit, um die Situation zu ordnen, dann sah auch er es. Im oberen Teil des gegenüberliegenden Gebäudes hatte sich jemand auf einem Fenstersims platziert und drohte hinunterzuspringen.
Während die Feuerwehrleute hastig das Sprungtuch auseinanderfalteten, hatten die wenigen Polizisten alle Hände voll damit zu tun, eine große Traube von Gaffern zurückzudrängen.
Die völlig überforderten Beamten konnten die Menge kaum in Schach halten, die immer wieder versuchte, die aufgestellten Absperrgitter zu durchbrechen. Die meisten von ihnen hatten ihre Smartphone-Kameras auf den Lebensmüden gerichtet, einige schrien ihm eiskalt Aufforderungen zu wie: „Na los, spring doch!“
Er identifizierte ein Pärchen, die junge Frau drückte sich weinend in die Arme ihres Freundes, konnte es aber nicht lassen, immer wieder zu dem Mann am Fenster hinaufzuschauen und ein Foto zu machen, um sich dann erneut von ihrem Freund trösten und küssen zu lassen.
Endlich gelang es dann einer Person im Inneren des Hauses, den potenziellen Selbstmörder von seinem Vorhaben abzubringen, der daraufhin ängstlich und unsicher versuchte, zurück in einen der Aufenthaltsräume des Kinos zu krabbeln. Er rutschte kurz ab, was die Menge mit einem geeinten Aufschrei kommentierte, wäre fast noch gestürzt, statt zu springen, aber die andere Person konnte ihn zu sich hereinziehen.
Einige Gaffer applaudierten, andere reagierten mit enttäuschten Buhrufen. Schließlich zogen sie sich mehr oder weniger aufgeregt zurück, immerhin, sie alle hatten die Aufnahmen des Tages im Kasten und etwas wirklich Bedeutsames gefilmt, was sich über die Social Media nun wie ein Lauffeuer verbreiten würde.
Aufgewühlt zog sich Alexander vom Fenster zurück. Um sich abzulenken, trug er das schmutzige Geschirr ins Bad, spülte es unter heißem Wasser ab und rubbelte es mit einem Handtuch trocken, als würde er dafür bezahlt. Es half nichts, die Aufregung gewann, die Übelkeit übernahm. Er beugte sich über die Kloschüssel und kotzte sich die Seele aus dem Leib.
Niemals würde er begreifen, was Menschen dazu brachte, einander das Leben zur Hölle zu machen. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, der ihn hierher geführt hatte.
Vielleicht würde es ihnen tatsächlich gelingen, eine Technologie zu entwickeln, die nicht zum Gaffen und Ballern, sondern zur Anteilnahme führte. Er wollte jedenfalls alles in seiner Macht Stehende dafür tun, auch wenn das, was er bisher in dieser Stadt erlebt hatte, ihm wie eine große Mahnung erschien, sich davon fernzuhalten.
Unsinn, versuchte er sich selbst Mut zuzusprechen, lass dich bloß nicht auf diesen alten Aberglauben ein. Es gibt keine Hinweise oder Zeichen, keinen Wink des Schicksals und keinen Jahwe, der den Turmbau zu Babel straft. Nicht gänzlich überzeugt, aber ausreichend erschöpft fiel er erneut in einen traumlosen Schlaf.
Er erwachte erholt und guten Mutes, vermied es jedoch, den Aufzug zu benutzen, und nahm lieber den Weg durchs Treppenhaus, um seine Rechnung zu begleichen und sich von der freundlichen Dame an der Rezeption mit einem besonders herzlichen „Tschüs“ zu verabschieden.
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