Alexander hatte gerade begonnen, im neu angelegten Auftragsordner zu blättern, da hörte er aus der Ferne Dr. Schumacher durch die langen, leeren und daher stets Unbehagen auslösenden Gänge von Dionysos Optik heranschnaufen.
Er hoffte einmal mehr, dass sein Chef nicht zu ihm wollte, aber das schwere Stapfen des dicken Schuhwerks, das Schumacher für gewöhnlich trug, ließ ihn erahnen, dass er ihm in wenigen Sekunden die schwitzende Hand schütteln und Fragen mit ihm erörtern musste, die ihn so sehr abstießen wie die gesamte Tätigkeit für den Zulieferer der Rüstungsindustrie .
Seine Augen huschten über das Dokument, verweilten kurz bei den Begriffen aufklären , identifizieren , eliminieren , jenen Aktionsfeldern, für die die neue Zieloptik benötigt wurde. Er ersetzte sie durch jagen , zielen und abschießen und wandte sich angewidert ab.
Seitdem bekannt geworden war, dass die Drohnenabschüsse vor allem Zivilisten trafen, fiel es ihm von Tag zu Tag schwerer, seine eigene Arbeit zu rechtfertigen, und sei es nur beim täglichen Blick in den Spiegel.
Dabei war er nicht naiv, er wusste, dass es da draußen Menschen gab, die so böse waren, dass man sie eigentlich nur bekämpfen konnte. Und dass eben diese Menschen zumeist an das Gute appellierten, obwohl sie selbst keinen Moment davor zurückschreckten, ihre Widersacher hemmungslos abzuschlachten, während sie von Frieden und Gerechtigkeit sprachen. Sie alle hatten so sehr Recht wie sie Unrecht ausübten – wer wollte das entscheiden?
Aber der Kampf mit Drohnen und der von Dionysos Optik bereitgestellten Zieloptik brachte eine neue Dimension ins Wettmorden. Er hatte die Videos selbst gesehen, die Menschen, die versuchten, noch wegzulaufen. Die ernsthaft hofften, sie könnten dem Geschoss, das aus dem unbemannten Flugobjekt auf sie abgefeuert wurde, noch entkommen. Die sich hinter Mauern oder in Erdlöchern versteckten, wo sie eine besonders gute Zielscheibe abgaben, da sie endlich zur Ruhe kamen.
Es gab keine Möglichkeit, zu fliehen, wenn er und seine Kollegen Aufklärung und Abschuss optimiert hatten. Man konnte vor einer Drohne nicht kapitulieren, eine weiße Fahne schwenken und sich in ein Lager bringen lassen.
Die Drohne war objektiv, sauber, erledigte gewissenhaft ihre Aufgaben. Der Rest hatte keine Bedeutung.
„Warum machst du dir um diese Kriegstreiber so viele Gedanken?“, hatte Annett ihn gefragt, als er das Thema bei ihrem letzten Treffen ansprach. Vom Bett aus hatte sie nach der Fernbedienung geangelt und das Smart Home Theatre gestartet. „Lass uns lieber was Lustiges gucken, los! Ist doch nur ein Job – und schließlich kommt es allen zugute.“
Doch Alexander wusste, dass das, was er tat, nicht allen zugutekam. Dennoch hatte er durchgehalten, Tag um Tag, hatte sich immer wieder verdeutlicht, dass er zu den Guten gehörte und für die anständige Seite kämpfte. Auch wenn man von Kampf hier eigentlich nicht mehr sprechen konnte.
Es ist ein bisschen so, als würde man den ganzen Tag Fleisch aus Massentiertötung in sich hineinschaufeln und sich vormachen, das wäre gut für Flora und Fauna, dachte er und ärgerte sich, dass er nicht einmal mehr in der Lage war, einen intelligenten Vergleich zu finden. Sein Hirn trocknete langsam aus und er sah einer trostlosen Zukunft entgegen, würde es ihm nicht gelingen, das Ruder noch einmal herumzureißen.
Das Getrampel kam näher, er sah kurz auf und erblickte, wie jedes Mal, wenn er von seinem Schreibtisch hochschaute, das Plato-Zitat, das Schumacher in einem hässlichen Holzrahmen an der Wand des trostlosen, dunklen Büros hatte aufhängen lassen.
„Wenn die Guten nicht kämpfen, gewinnen die Schlechten!“
Schon wahr, dachte er. Aber wenn man das Gute nur über das Töten erreichen kann, wieso benennt man es dann nicht so? Ihn widerte das Versteckspiel mit Worten und Begriffen an, aber gut, es war nicht seine Aufgabe, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Schließlich wollten alle in seiner Branche immer nur das Gute, an welchen todbringenden Technologien sie auch gerade arbeiteten.
Und das galt ja nicht nur für die Rüstungsindustrie. Wer immer etwas auf sein Unternehmen hielt, entwickelte heute Innovatives aus Tradition und folgte unternehmerischen Visionen, die der Menschheit Glück und Zufriedenheit versprachen, die Kranken heilten, die Lahmen und Gebrechlichen auf den Weg brachten und allen alle Wünsche erfüllten, die in den Bereich des technologisch Machbaren fielen. Lauter mobile Heilsbringer, dachte er, als es endlich kurz und energisch an der Bürotür klopfte.
Schumacher trat ein, natürlich wie immer, ohne abzuwarten, dass man ihn darum bat. Es war sein Unternehmen, es waren seine Räume, seine Mitarbeiter und er legte Wert auf vollkommene Unterwerfung. Höflich wandte sich Alexander seinem Chef zu, der wissen wollte, ob er sich mit den neuen Auftragsdaten bereits vertraut gemacht hatte.
Er habe eben erst die Unterlagen erhalten, entgegnete Alexander mit gekonntem Bedauern, doch sehr zum Missfallen des rundlichen Mannes, der trotz seines überteuerten Maßanzuges deplatziert wie ein Handwerker im Blaumann wirkte, der sich auf den Wiener Opernball verlaufen hat.
Als hätte er auf diese Antwort nur gewartet, begann Schumacher in einem hämmernden Stakkato mit schlecht gesetzten Pausen seine ewige Litanei herunterzubeten, in der überbetonte und langgezogene Begriffe wie Schlamperei , Nichtsnutze , Faulenzer noch zu den höflicheren Bezeichnungen gehörten, mit denen er seine Mitarbeiter bedachte.
Alexander wartete geduldig, bis Schumacher beim zu befürchtenden finanziellen Ruin des Unternehmens angekommen war – „ und das alles auf meine Kosten!“ – und, wie um zu bekräftigen, dass nun eine wirksame Pause folgen würde, hektisch am Bund seiner schlecht sitzenden Anzughose herumnestelte.
Alexander wollte ihn noch beschwichtigen, indem er versprach, den Auftrag bis zum Abend komplett zu bearbeiten, sodass er an die Produktion übergeben werden könne, als Schumacher ihm übergangslos ein Vertragsdokument überreichte und, nicht ohne den Zeigefinger drohend zu erheben, um zügige Unterzeichnung bat.
Dann rauschte er ab und überließ seinen verdutzten Master of Engineering sich selbst. Der freute sich, dass das Gastspiel so schnell vorüber war, bis er zu lesen begann, was Schumacher ihm in die Hand gedrückt hatte.
Der Änderungsvertrag sah vor, dass er noch mehr arbeiten und dafür weniger Vergünstigungen erhalten sollte. Außerdem würde ein Zeitkonto eingerichtet, auf das er 120 Stunden einzahlen sollte, sprich, er sollte drei Wochen ohne Vergütung der Überstunden arbeiten. Bei Auftragsflauten sollte er in Zukunft Stunden abbummeln, dennoch aber jederzeit erreichbar sein.
Alexander zeigte dem Änderungsvertrag einen Vogel und als dieser darauf nicht reagierte, zerriss er ihn mit heftigen, aber präzisen Bewegungen. So einfach geht das also heute, dachte er verbittert, und spürte die letzten 13 Jahre, in denen er sich Tag für Tag mehr hatte zusammenreißen müssen, um morgens überhaupt aufstehen und seine Arbeit pünktlich beginnen zu können, im Nacken schmerzen.
Den Arsch hatte er sich aufgerissen für das Unternehmen, neue Strukturen geschaffen, neue Projekte durchgekämpft, alles dafür getan, damit sie überhaupt noch mithalten konnten in der sogenannten Industrie 4.0.
Ohne ihn wäre der Laden längst den Bach runtergegangen, denn Schumacher verstand von Digitalisierung so viel wie ein Kamel von der Schreibmaschine. Und kaum gab es aufgrund der erforderlichen Investitionen mal eine kleine Gewinneinbuße, nutzte man die günstige Gelegenheit, um die Gehälter einzufrieren und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.
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