„Du musst also den Rest deines Lebens vor ihr davon laufen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt doch, bei uns verläuft die Zeit nicht linear wie bei euch. In meiner Vergangenheit hat sie mich schon erwischt. Deswegen weiß ich, was dann passiert.“ Seine Stimme war ganz zittrig.
„Das heißt aber doch, dass dir nichts Schlimmes passiert ist? Sonst wärst du ja nicht hier.“
Jetzt liefen ihm wirklich Tränen übers Gesicht. Er wandte sich ab.
Als er sich wieder zu ihr drehte, hatte er sich schon gefangen. „Wie auch immer. Hierher kann sie mir nicht folgen, sonst öffnet sie ein Paradox. Ich kann also wieder zurückkehren.“
„Wartet sie dort nicht auf dich?“
„Mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit werde ich nicht an dem Ort und zu der Zeit landen, von wo ich gerade komme. Hast du den Traumfänger noch, den ich in dein Zimmer gehängt habe?“
„Du warst das?“
„Natürlich. Ich brauche ihn jetzt, sonst komme ich nicht zurück.“
Er folgte ihr zu ihrer Wohnung.
„Sehr gemütlich.“
„Ich bin ja nie hier.“
„Zum Glück sorgt mein Traumfänger für ein bisschen wohnliche Atmosphäre“, stellte er fest. Aus seiner Jackentasche nahm er einen kleinen goldenen Ball.
„Ein Traum?“
Er nickte, hob ihn hoch und pustete ihn in das Nest aus Wollschnur und Perlen. Das ganze Objekt geriet ins Schwingen, zitterte und wackelte. Ein goldenes Leuchten breitete sich im Raum aus, während sich die Kugel auflöste. Die Fäden rissen. Perlen regneten auf den Boden.
„Verdammt!“, fluchte er. „Hast du ein Messer? Ein scharfes? Schnell!“
Mit einem Sprung war sie an der Küchenzeile und wühlte ein Messer aus dem Besteckkasten.
„Nicht scharf genug!“ Er warf es auf den Boden und streckte ihr weiterhin die Hand hin. „Kein Kindermesser!“
Sie fand ein anderes, das er für gut befand.
Das Licht wurde bereits matter. Er nahm das Messer und rammte es durch den geborstenen Rahmen und die Fetzen von Faden und Federn in die Wand.
„Au!“, schrie eine Stimme. An der Wand tauchte ein Schatten auf. Er zappelte, aber das Messer hatte einen Ärmel fest an die Wand gepinnt.
Langsam wurde der Schatten menschlicher.
„Fís?“, fragte Stuaire perplex.
„Du!“, sagte Fís zu Astóirín. „Wer sonst! Hätte ich mir ja denken können.“
„Bruderherz“, begrüßte Astóirín ihn mit einem gewinnenden Lächeln.
„Schleim nicht. Du brauchst ein Taxi.“
„Yep.“
Stuaire sah von einem zum anderen. „Ihr seid Brüder?“, fragte sie. „Er ist der Bruder, den Pritorniji gemeint hat?“
Fís verdrehte die Augen. „Habt ihr immer noch eure Kindergartenfehde am Laufen?“, fragte er seinen Bruder. Dann sah er zu Stuaire und lächelte. „Willst du diesmal mitkommen?“
Seine Augen strahlten immer noch, als könnten sie eine ganze Stadt erleuchten. Stuaire schüttelte trotzdem den Kopf. „Ich habe hier etwas Wichtiges zu erledigen.“
„Vielleicht das nächste Mal.“ Er zwinkerte ihr zu, mit einem Gesichtsausdruck, dass sie errötete. Er legte Astóirín die Hand auf den Rücken und schob ihn zur Tür. Sie hörte noch, wie Astóirín leise schimpfte. „Musst du sie jedes Mal anbaggern? Du – “, der Rest ging im Zischen einer Zugtür unter. Sie lief auf den Hausflur. Keine Spur mehr von den beiden.
•
Stuaire winkte ein Taxi heran. „Zum MI6, bitte.“ Draußen wurde es schon dunkel.
Der Taxifahrer gab Gas. „Miss Eirín ist übrigens verschwunden“, informierte er sie. „In Frankreich und in England sind seit heute Morgen Haftbefehle gegen sie erlassen.“
Sie sank zurück und presste die Hand an ihre Stirn. Da waren wieder diese bohrenden Kopfschmerzen. „Wieso diesmal?“, fragte sie mit geschlossenen Augen.
„Wenn Sie einen Blick in den Fernseher werfen möchten …“ Der Fahrer ließ mit einem Knopfdruck einen Bildschirm von der Autodecke klappen. „Es kommt auf allen Kanälen.“
Auf dem Bildschirm sah Stuaire die Aufnahme einer Überwachungskamera.
Es fiel ihr nicht schwer zuzuordnen welchen Raum die Kamera filmte. Es war die riesige Safeanlage in den Katakomben der Bankfiliale, die in Paris die Herausgabe der Überwachungsbänder verweigert hatte.
Mitten im Raum stand Eirín. Ihr Kleid hätte nicht kürzer sein können. Es sah eher aus wie ein etwas zu langes, tailliertes schwarzes Hemd, mit langen Ärmeln und einem weißen Button-down-Kragen. Als wäre sie noch nicht unpassend genug für einen Einbruch gekleidet, trug sie dazu auch noch – wie immer! – ihre Chucks. Stuaire schmerzte der Mode-Fauxpas fast mehr als die Tatsache, ihre Schwester in einem Tresorraum zu sehen. Bewaffnet mit einem, wie es schien, gewöhnlichen Handbohrer.
Man konnte sich sicher sein, dass es gewiss alles andere als ein normaler Handbohrer war, dachte Stuaire.
Bestimmt tausend Schließfächer waren hier in die Wände eingelassen. Eirín ging zielstrebig zur linken Wand, setzte den Bohrer an einem Fach an, das sich außen in der Mitte befand, und begann zu bohren.
Funken sprühten. Man hörte die Alarmanlage schrillen. Eirín blieb davon unbeeindruckt. Einen Moment später nahm sie einen Haken aus der Tasche, die neben ihr am Boden stand, schob ihn in die gebohrte Öffnung, drehte und zog.
Die ganze Wand mit den Schließfächern öffnete sich langsam. Man sah, dass es sich gar nicht um Schließfächer handelte, sondern um eine massive Tresortür, die nur zum Schein eine wie Schließfächer gestaltete Oberfläche aufwies. Man hörte jetzt das Getrampel und Geschrei von Sicherheitspersonal, das die Treppe zur Safeanlage hinunterrannte. Eirín wirkte ruhig und konzentriert, obwohl sich ihre Hände schneller bewegten als das Auge folgen konnte. Sie war bereits in den versteckten Raum gehuscht, in dem sich nichts befand als ein kleiner kompakter Tresor und ein Tisch. Der Bohrer nahm es auch hier mit der massiven Oberfläche auf, innerhalb von Millisekunden hielt Eirín in Händen, wonach sie gesucht hatte, eine winzige Speicherkarte. Sie drehte sich jetzt seelenruhig um, lächelte strahlend in die Kamera und hielt ein Stück Pappe hoch:
YOU CAN BOOK ME
I AM A BLAST OF A MODEL
CONTACT MY AGENT ♥:
Darunter stand die private Handynummer von Paul Deuxfous.
Dann hob sie die andere Hand, in der sie eine Art kleinen Schalter hielt, und drückte auf den Knopf.
Es tat einen Knall, im anderen Raum sah man die Wände explodieren, eine riesige Staubwolke, dann wurde das Bild schwarz.
Stuaire war immer tiefer in den Sitz gesunken, je länger die Aufnahme lief. Sie schaltete den Fernseher aus und hielt sich den Kopf. „Das darf nicht wahr sein.“
Der Fahrer reichte ihr fürsorglich Aspirin und ein Glas Wasser nach hinten. „Die Explosion hat niemanden erwischt“, informierte er sie. „Keine Toten, keine Verletzten. Bis die Bankangestellten die Tür zu den Schließfächern geöffnet hatten, war alles schon passiert. Miss Eirín ist seitdem verschwunden.“
Stuaire wählte die Nummer ihrer Schwester.
„Willkommen bei YSOB, Ihrem Spezialisten für Personen- und Objektschutz.“ Ein bekannter Werbejingle erklang. „Ihr ruhiger Schlaf ist unser Job! Bitte warten Sie. Sie werden gleich mit dem nächsten freien Mitarbeiter verbunden.“
Stuaire beendete den Anruf und pfefferte mit einem Fluch ihr Handy auf den Boden.
Der Fahrer gab ein merkwürdiges Geräusch von sich.
„Was?“, fuhr sie ihn an.
„Kommen Sie schon“, sagte er. „Das ist witzig.“ Er sah ihre Miene im Rückspiegel. „Nicht? Okay.“
Stuaire wäre am liebsten schlafen gegangen.
Schon auf dem Weg in ihr Büro wurde sie von allen Seiten bestürmt. Sie ignorierte vorerst alle und verschloss die Tür hinter sich. Zu allererst brauchte sie einen Kontakt zu Eirín. Wie war sie aus dem Keller der Bank gekommen? Hoffentlich war ihr nichts passiert.
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