Inhalt
Kapitel 1 – HANNAH – Im Moment der Landung …
Kapitel 2 – IMOGEN – Imogen Collins betrachtet sich …
Kapitel 3 – HANNAH – Wie Speichelgeschosse klatschen …
Kapitel 4 – IMOGEN – Imogen hat schon so oft …
Kapitel 5 – HANNAH – Ein Facebook-Freund …
Kapitel 6 – IMOGEN – Mit jedem tiefen Schluck …
Kapitel 7 – HANNAH – Auf der Autofahrt …
Kapitel 8 – IMOGEN – Imogen steht vor …
Kapitel 9 – HANNAH – Einen Tag nach …
Kapitel 10 – IMOGEN – Imogen hat sich …
Kapitel 11 – HANNAH – Um kurz nach sieben …
Kapitel 12 – IMOGEN – In der Kneipe …
Kapitel 13 – HANNAH – Es ist kurz vor fünf …
Kapitel 14 – IMOGEN – Mit dem Telefon …
Kapitel 15 – HANNAH – Bei der morgendlichen …
Kapitel 16 – IMOGEN – Imogen sitzt allein …
Kapitel 17 – HANNAH – Kaum vom Mittagessen …
Kapitel 18 – IMOGEN – An die Wand gedrängt …
Kapitel 19 – HANNAH – Es ist drei Uhr nachts …
Kapitel 20 – IMOGEN – Aus Imogens Sicht …
Kapitel 21 – HANNAH – Ich bin noch am Leben.
Kapitel 22 – IMOGEN – In diesem Zustand …
Kapitel 23 – HANNAH – Ich will jetzt …
Kapitel 24 – IMOGEN – Es ist sechs Uhr morgens …
Kapitel 25 – HANNAH – In Sigurlínas Küche …
Kapitel 26 – IMOGEN – Seit 40 Minuten …
Kapitel 27 – HANNAH – Ich bekomme mit, …
Kapitel 28 – IMOGEN – Das letzte Mal …
Kapitel 29 – HANNAH – Heute ist mein erster Schultag.
snow·flake n
1. Schneeflocke f; federleichter Eiskristall, meist von einer zarten sechsfachen Symmetrie
2. abwertend, informell; übermäßig empfindliche, leicht zu beleidigende Person; Person, die von sich glaubt, aufgrund vermeintlich einzigartiger Eigenschaften einen Anspruch auf besondere Behandlung zu haben
Foto: In einem engen Flur steht zwischen lauter Schuhen ein pinkfarbener Koffer.
Filter: Clarendon
Mögliche Bildunterschriften …
Option 1: Auf ins exotische Abenteuer #myglamorouslife
Option 2: Dieses Gepäckstück hat mir mein Dad gerade gekauft. Kennt der mich überhaupt?
Option 3: Mein ganzes Leben passt in einen einzigen Koffer. Mums Asche passt perfekt auf den Kaminsims.
Option 4: Ich habe ein Verbrechen begangen und werde nun dorthin geschickt, wo die Verdammten ewig für ihre Taten büßen.
Tatsächliche Bildunterschrift …
Macht’s gut, und danke für den Fisch.
38
Im Moment der Landung ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Eine neue Nachricht von Daisy.
Vermisse dich jetzt schon!
Und eine von Dad.
Musste länger arbeiten, komme ca. 20 Minuten später.
Typisch für ihn.
Dad wollte mich unbedingt vom Flughafen abholen. Ich habe ihm gesagt, ich könne auch gerne den Bus nehmen, kein Problem. Ich fahre immer mit dem Bus. Aber diesmal ist es anders.
Langsam rollt das Flugzeug über die vereiste Piste zum Terminal. Es schliddert ein bisschen, was aber anscheinend niemanden stört. Verglichen mit den Turbulenzen während des Sinkflugs, als die Windböen auf den Flieger eingeprügelt haben wie die unsichtbaren Fäuste eines gigantischen Boxers, ist das ein Klacks.
Meine Sitznachbarin sieht mich immer wieder an und lächelt. Sie will mich in ein Gespräch verwickeln, das merke ich genau. Ich starre auf mein Handy. Ich will nicht reden. In den letzten drei Wochen, zwei Tagen und sechs Stunden habe ich das so häufig gesagt, ich sollte es mir als Motto auf ein T-Shirt drucken lassen.
Auf dem Handy-Display ploppen von oben nach unten Benachrichtigungen verschiedener Apps auf, Zahlen in Blasen, die mir mit der Autorität eines Stoppschilds befehlen: Egal, was du machst, du klickst mich jetzt sofort an. Die üblichen Gefühle steigen in mir auf, eine Mischung aus Vorfreude und Aufregung, Grauen und Bestätigung, die süchtig macht. Natürlich sollte ich das alles nicht empfinden. Natürlich lasse ich mich dadurch von gierigen Konzernen ausnutzen, denen es allein um Klickrate und Kontostand geht. Doch in meiner Situation ist das einfach mal eine schöne Abwechslung, denn sonst will ich mich immer nur auf den Boden legen und darauf warten, dass es vorbeigeht.
Ich überfliege die Zahlen in den Blasen, die ewigen Gezeiten der Wertungen und Urteile, denen wir in Wirklichkeit so gleichgültig sind wie die Küste dem Meer: Wie sehr wirst du heute geschätzt? Wie stark geliebt, wie viele Menschen suchen deine Nähe? Mag dich denn überhaupt irgendwer? Hast du neue Freunde? Wie sieht’s mit Followern aus?
Zuerst tippe ich auf Gmail. Abgesehen von Newslettern und Benachrichtigungen verschiedener sozialer Netzwerke habe ich genau zwei neue E-Mails. Eine stammt von einer gewissen Stacey Callaghan, und obwohl mir der Name rein gar nichts sagt, habe ich so eine Ahnung, worum es gehen könnte. Der Betreff lautet: »Mein Beileid«. Ich schiebe die Mail zu den ganzen anderen in den Später-Lesen-Ordner. Die andere Mail ist von Granny Jo. Sie will einfach nicht kapieren, wie man Textnachrichten schreibt, und schickt mir stattdessen immer kurze Botschaften in der Betreffzeile: »Bring auf dem Heimweg Milch mit« oder »Muss bis spät arbeiten, bestell dir eine Pizza«. Diesmal steht dort: »Ruf an, wenn du bei deinem Dad bist.« Ich öffne die E-Mail, auch wenn das Textfeld sowieso jedes Mal leer ist. Ist es in diesem Fall aber nicht.
Mein liebes Mädchen, ich hoffe, du bist sicher gelandet. Ich wollte dich nur darum bitten, nein, ich flehe dich an, nicht einfach zu vergessen, was ich dir heute Morgen gesagt habe. Du bist jetzt nur noch für dich selbst verantwortlich und für niemanden sonst. Gestatte dir, frei zu sein. Bitte, Hannah. Noch ein vergeudetes Leben halte ich nicht aus.
In Liebe
Granny
Ich tue mein Bestes, nicht in Tränen auszubrechen.
Vor nicht einmal fünf Stunden habe ich mich von Granny Jo verabschiedet. Irgendwie kommt es mir schon jetzt vor wie eine Ewigkeit.
Dass sie mir vor meinem Abschied noch eine Ansage machen würde, hatte ich mir denken können. Aber mit so etwas hatte ich nicht gerechnet. Das war zu viel verlangt. Ich könne nicht einfach so neu anfangen, erklärte ich ihr, mein Leben sei keine Geschichte in einem Word-Dokument, das ich mal eben löschen und durch ein neues ersetzen könne. Wenn das jemand wissen sollte, dann sie.
Ein Druck auf den Home-Button meines Handys und Grannys Nachricht verschwindet. Ich stecke den Kopf in den virtuellen Sand. Ich kann mich damit jetzt nicht beschäftigen.
Zur Ablenkung gehe ich auf Facebook. Nichts Neues bei mir außer einer einzigen Freundschaftsanfrage von jemandem, der mit ziemlicher Sicherheit nicht real, sondern ein Bot ist. Doch ich brauche jetzt dringend eine Dosis digitale Liebe, also schnell Instagram öffnen.
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